Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Die Erzählungen der Zeugen fügten sich nur zu genau in die Pläne des demokratischen Parteiapparats ein. Zwar hatte Taylor nach der Entscheidung des Obersten Gerichts den Kampf um das Amt des Gouverneurs aufgegeben und war nach Indianapolis geflohen, und der Staat Indiana verweigerte seine Auslieferung mit der Begründung, in Kentucky werde die Justiz in den Dienst der Politik gestellt. Powers aber war festgenommen worden, als er sich zur Flucht rüstete. Dass die führenden Republikaner versucht hatten, sich einem Gerichtsverfahren durch die Flucht zu entziehen, wurde als Eingeständnis ihrer Schuld ausgelegt und in alle Welt hinausposaunt. Und dass Powers bei seiner Verhaftung außerdem noch eine von Taylor unterzeichnete Begnadigungsurkunde im Hinblick auf angebliche Beteiligung am Goebel-Mord mit sich führte, schien ihn nicht zu entlasten, sondern erst recht zu belasten.
Howard, der Mann, der geschossen haben sollte, bestritt nachdrücklich und beharrlich jede Beteiligung am Attentat und jede Kenntnis von einem Mordkomplott; dasselbe galt von Powers und auch von Taylor, der zwar nie vor Gericht erschien, aber eine schriftliche Aussage unterbreitete. Außer Youtsey meldeten sich keine Augenzeugen. Zweifelhaft war sogar, ob die Schüsse überhaupt aus Powers’ Amtsräumen gekommen seien. Aussagen, die Powers belasteten, muteten von Anfang fraglich an und wurden im Kreuzverhör vollends zerpflückt. Auch sonst waren die meisten Aussagen konfus und voller Widersprüche.20 Entscheidende Zeugen waren auf diese oder jene Weise mitbelastet worden und damit der Anklagebehörde, die ihnen mit Niederschlagung der Verfahren winkte, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Die Geschworenenbank, die über Powers’ Schuld zu befinden hatte, setzte sich ausschließlich aus Demokraten zusammen; der Richter, der den Vorsitz führte, war ein demokratischer Politiker, ehedem stellvertretender Gouverneur von Kentucky.
Die Verantwortung der republikanischen Führung hätte sich nur feststellen lassen, wenn der Zweck der bewaffneten Expedition nach Frankfort eindeutig zu ermitteln gewesen wäre. Hatte Powers die Leute aus den Bergen als Totschläger in die Hauptstadt beordert, damit sie demokratische Politiker umbrächten? Oder waren sie nur gekommen, der Gesetzgebenden Versammlung eine Petition zu unterbreiten, auf dass der Wille der Wähler zur Geltung komme? Der Richter verwarf nicht nur die meisten Rechtsbelehrungsanträge der Verteidigung, sondern gab sich bei der Zusammenfassung des Prozessmaterials auch noch die größte Mühe, dieser überaus wichtigen, wenn nicht gar entscheidenden Frage ihre Bedeutung zu nehmen.21 Vor den Novemberwahlen wurde der Schuldspruch benötigt. Am 17. August 1900 brauchten die Geschworenen dafür – nach sechswöchiger Prozessdauer – nur 20 Minuten. Das Urteil lautete auf lebenslängliches Gefängnis. Parteiführer und Zeitungsleute reagierten so, wie man es hätte erwarten dürfen. Für die Demokraten gab es keinen Zweifel daran, dass die gesamte Republikanische Partei des Mordes für schuldig befunden worden sei. Den Republikanern bewies das Urteil »blitzlichtartig«, dass der Staat in Lebensgefahr schwebe; er sei, sagten sie, an den Rand des Abgrundes gebracht worden.22
Mit dem Powers-Urteil waren indes die Wahlvorbereitungen der Demokraten noch nicht abgeschlossen; zwei weitere Schuldsprüche sollten folgen. Am 5. September wurde auch Howard zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt. Mit demselben Urteil endete das Verfahren gegen Youtsey, das im Oktober stattfand. Youtsey legte keine Berufung ein und machte in späteren Prozessen Aussagen, die noch andere Angeklagte schwer belasteten. Daraus wurde geschlossen, dass er der Schuldige oder einer der Schuldigen gewesen sein müsse. Die volle Wahrheit ist nie ans Tageslicht gekommen.23
Scharf kritisiert wurde die Taktik der Verteidigung. Der erfahrene Verteidiger weiß, wie anfällig Geschworene für Propagandaargumente sein können; er weiß – mit oder ohne Zynismus –, dass er daran nicht vorbeigehen darf. Gerade unter diesem Gesichtspunkt hat ein führender Anwalt aus Frankfort auf taktische Versäumnisse der Verteidigung hingewiesen: Im ersten Prozess der Serie, der noch vor dem Powers-Prozess geführt wurde, hätten die Verteidiger mit der Anklagebehörde zusammen das Komplott der republikanischen Führung in den Mittelpunkt gestellt und damit den Freispruch des Angeklagten Garnett D. Ripley erwirkt, dem Beihilfe zur Last gelegt worden war; mit derselben Taktik müsse es möglich gewesen sein, die Verurteilung Howards zu verhindern und ihm Jahre im Gefängnis zu ersparen; diesen Weg hätten zwar Powers’ Verteidiger im zweiten Prozess, lauter bekannte Demokraten, eingeschlagen, aber da sei es zu spät gewesen: Ihre republikanischen Vorgänger im ersten Prozess von 1900, denen es hauptsächlich darauf angekommen sei, die eigene Parteiführung reinzuwaschen, hätten bereits zu großen Schaden angerichtet. Allerdings hätte es angesichts der prominenten Stellung des Angeklagten sowieso »ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen« sein müssen, Powers zu verteidigen.24 Das alles mag sehr unverblümt ausgedrückt sein, hat aber manches für sich.
Während die Prozesse weitergingen, näherte sich der Wahlkampf seinem Gipfelpunkt. Bis zum Oktober hatten die Demokraten das Wahlgesetz abgeändert und einen der wichtigsten Streitpunkte hinweggeräumt. Da der Kampf um den Besitz der Macht in Kentucky im Vordergrund blieb und die große nationale Auseinandersetzung zwischen Bryan und McKinley in den Schatten stellte, bemühten sie sich erst recht, die Republikaner als Helfershelfer von Mördern anzuprangern. Die Wahl eines republikanischen Gouverneurs, behaupteten sie, werde automatisch die Begnadigung der bereits Verurteilten und des im Jahre zuvor gewählten, nun flüchtigen Gouverneur Taylor nach sich ziehen.25 Die Wähler wurden davor gewarnt, eine Regierung an die Macht zu bringen, die das Schwurgericht des Kreises Franklin wegen gesetzwidriger Freiheitsberaubung zur Rechenschaft ziehen werde, weil es für die Schuldsprüche in Sachen Goebel verantwortlich sei. Der amtierende Gouverneur Beckham, den die Demokraten zum Gouverneur wählen lassen wollten, machte die Verweigerung der Begnadigung zu einem Hauptpunkt seines Wahlprogramms.
Nicht ganz so einfach ließ sich die Sache der Republikaner präsentieren. Natürlich erklärten sie, sie hätten mit dem Mord nichts zu tun; natürlich sagten sie, die wirklichen Täter müssten bestraft werden; natürlich bestritten sie mit Nachdruck die Schuld ihrer führenden Personen. Sie erinnerten aber auch beredt an Fehlurteile der Gerichte, denen Männer wie Titus Oates und Alfred Dreyfus zum Opfer gefallen seien. Mit solchen Mahnmalen sollte die flagrante Ungerechtigkeit der Goebel-Prozesse unterstrichen und die Begnadigung der Verurteilten durch die Staatsexekutive als die einzige Möglichkeit hingestellt werden, das Unrecht wiedergutzumachen. Den Hintergrund gab das tragische Bild der verblutenden Freiheit ab.26
Ob die Wahlkampfrhetorik auf die Mörder und ihre Hintermänner einschlug oder ob sie die Bemühungen um den Schutz der Freiheit vor »vergoebelten« Demokraten in den Himmel hob: Der Fall Goebel blieb im Mittelpunkt der Wahlkampagne. Das Wahlergebnis zeigte einen kleinen Vorsprung der Demokraten, aber von einem gewaltigen Sieg konnte keine Rede sein. Das Amt des Gouverneurs fiel an Beckham mit einer knappen Mehrheit von 3.700 Stimmen. Die Republikaner gewannen gegenüber dem Vorjahr einige Hundert Stimmen, während die Demokraten nur etwa die Hälfte der Stimmen zurückerobern konnten, die sie im Jahr zuvor an die abgesplitterten »Anhänger ehrlicher Wahlen« und an die Populisten hatten abgeben müssen.
Da Beckham wieder an der Spitze der Staatsexekutive stand, war die Begnadigung der in den Goebel-Prozessen Verurteilten ausgeschlossen. Sie legten Berufung ein, die Prozesse zogen sich jahrelang hin. Howard hatte die Urteile