Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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In totalitären Herrschaftsordnungen ist eine solche gerichtliche Durchleuchtung des politischen Verhaltens allerdings ausgeschlossen: Sie erlauben keine öffentliche Erörterung der Probleme der Machtverteilung innerhalb der herrschenden Gruppe oder Kaste. Politisch gefärbte Beleidigungsverfahren erreichen den Gerichtssaal im totalitären Bereich nur, wenn sie dem Zweck der Massenbeeinflussung dienen. Überhaupt steht der totalitäre Gerichtssaal nur auf Geheiß der Herrschenden für offene politische Auseinandersetzungen zur Verfügung.
Dort, wo die Tradition noch mächtig genug ist, ein Minimum an prozessualen Garantien zu bewahren, besteht der politische Prozess heute weniger darin, dass unangreifbare Machtpositionen einseitig bestätigt werden, als dass konkurrierende Machtgruppen ihre Kräfte messen. Er braucht gewiss kein Wettstreit von Gleichen zu sein und ist es auch meistens nicht. Aber da er dennoch eine Kraftprobe ist, unterscheidet er sich grundlegend vom politischen Prozess des Mittelalters, zu dem Vasallen, die ihre Domäne zu sehr erweitert hatten, befohlen wurden, damit ihnen ihr Lehen abgenommen oder so beschnitten werden konnte, dass sie keine Gefahr mehr für die Oberhoheit des Lehnsherrn darstellten.3 Da dieser mittelalterliche Prozess dem Zweck diente, den Herrschaftsanspruch des Lehnsherrn zu bestätigen und zu festigen, bedrohte er unmittelbar Sicherheit und Besitz des Angeklagten, der vertrauensselig genug war, der Ladung zu folgen; der Angeklagte war besser daran, wenn er der Verhandlung fernblieb und sich auf das Risiko offener Kriegführung vorbereitete. Im politischen Prozess der Gegenwart ist es wahrscheinlich, dass der Angeklagte vor Gericht erscheint: Nicht nur weil der Staat über die weitaus größeren Zwangsmittel verfügt, die auch ohne große militärische oder polizeiliche Aktionen ausreichen, die Anwesenheit des Angeklagten zu erzwingen, sondern auch, weil ihm das Gerichtsverfahren eine Kampfchance gibt, auf die er nicht zu verzichten wagt.
Es kann gewiss vorkommen, dass der politische Gegner, gegen den die herrschenden Mächte ein Gerichtsverfahren eingeleitet haben, Gelegenheit hat, dem Zuständigkeitsbereich des Gerichts zu entkommen oder gar ins Ausland zu fliehen. Wenn er aber diese Gelegenheit nutzt, läuft er Gefahr, eher der Sache seiner Verfolger als der eigenen oder der seiner Gesinnungsgenossen einen Dienst zu erweisen. Nicht nur totalitäre Organisationen verlangen von ihren Führern und Funktionären, dass sie auf ihrem Posten bleiben und auch bei drohender Gefahr der Strafverfolgung die Bastion halten; nicht nur sie gehen mit Disziplinarstrafen gegen Kampfgefährten vor, die sich eigenmächtig aus dem Staub machen. Zwar braucht Flucht ins Ausland weder die Fortführung des politischen Kampfes auszuschließen noch seine Wirksamkeit entscheidend zu beeinträchtigen; aber sie kann dazu führen, dass der Flüchtende mit ausländischen Gruppen oder Regierungen Vereinbarungen treffen und Kompromisse eingehen muss. Sogar unter günstigen Umständen kann das seine Mitstreiter in Schwierigkeiten bringen, ihre Bewegungsfreiheit einschränken oder unerwünschte politische oder ideologische Verpflichtungen nach sich ziehen. Man denke nur an die peinliche Lage, in die sich General de Gaulle und seine »Freie Französische« Regierung in den Kriegsjahren in England begeben hatten!
Verfolgten totalitären Parteien fällt es leichter, ihr Personal nach Belieben von einem Ort zum andern zu dirigieren. Ihre Apparate halten das aktive Personal unter strikter Kontrolle, sind daran gewöhnt, die Parteiposten auch unter normalen Verhältnissen ständig umzubesetzen, und haben eher die Möglichkeit, eine größere Anzahl von Menschen in verschiedenen Ländern in Parteistellungen zu bringen, ohne damit auch Verpflichtungen in Bezug auf den künftigen Parteikurs zu übernehmen. Aber auch sie können nicht verhindern, dass der einzelne Funktionär durch die Flucht ins Ausland Ansehen einbüßt; so ist es zum Beispiel dem französischen Kommunistenführer Maurice Thorez während seines Aufenthalts in der Sowjetunion ergangen.4
Noch viel triftigere Gründe, das Erscheinen vor Gericht einem langen Exil vorzuziehen, haben Angeklagte, die mit totalitären Bestrebungen nichts zu tun haben. Das gilt nicht minder auch für Beleidigungs- und Meineidsprozesse. Zwar kann der Angeklagte oder Angeschuldigte der abträglichen Publizität des Gerichtsverfahrens manchmal dadurch entgehen, dass er seine Ämter niederlegt oder sich auf Erklärungen einlässt, die ein Strafverfahren abzuwenden vermögen; aber in der Regel wird er es vorziehen, den Fall vor Gericht auszufechten, weil damit die Hoffnung verbunden bleibt, dass es ihm gelingen werde, die Anschuldigungen zu widerlegen oder als furchtloses Opfer gegnerischer Schikanen seinen politischen Ruf zu retten oder sogar neues Ansehen zu gewinnen.
Allgemein sind politische Prozesse der neuesten Zeit durch die dramatische Konstellation eines Kampfes gekennzeichnet, dessen Charakter die politische Bedeutung und die öffentliche Wirkung des Verfahrens anzeigt. Trotz dieser Gemeinsamkeit weisen sie in Bezug auf Prozessgegenstand, Rechtsprobleme und Verfahrensmodalitäten mancherlei Varianten auf. Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte lassen sich einige klar umrissene Kategorien von Prozessen herausschälen.
Politische Fragen können, wie schon gesagt, auch in Prozessen um gewöhnliche Verbrechen im Vordergrund stehen, in Prozessen um Straftaten also, die von beliebigen Angehörigen des Staatswesens aus vielfältigen Beweggründen begangen worden sein können. Ein solcher Feld-, Wald- und Wiesenprozess kann ein politisches Gepräge infolge bestimmter Motive oder Ziele seiner Initiatoren oder im Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit, den politischen Bindungen oder der politischen Position des Angeklagten erhalten. Je nach der politischen Gesamtatmosphäre, der Rechtsprechungstradition und den herrschenden Sitten kann ein solcher Prozess auf sehr konkrete Weise den egoistischen Zwecken der Kreise, die gerade an der Macht sind, dadurch dienen, dass er Material ans Tageslicht bringt oder in aller Öffentlichkeit ausbreitet, das die politischen Widersacher der Regierenden in ungünstigem Licht erscheinen lässt. Dadurch, dass sie den im Prozess festgehaltenen Tatsachen, die den politischen Gegner belasten, die größte Verbreitung außerhalb des Gerichtssaals geben, können die Regierungsorgane oder auch einflussreiche politische Organisationen außerdem noch weit und breit kundtun, wie strikt sie sich an die Maßstäbe des für alle gleichen und gewiss unparteiischen Gesetzes halten; die politischen Momente des Prozesses lassen sich dann leicht hinter der Fassade eines ordnungsmäßigen und sauberen Verfahrens, das allgemeine Anerkennung verdient, abschwächen, wenn nicht gar verbergen.
Zu einer anderen Kategorie gehören Prozesse um Delikte, die im Strafgesetz eigens dazu konstruiert sind, das bestehende Regierungssystem vor einer ihm bewusst feindlichen Tätigkeit zu schützen, die sich dazu noch in allgemein verurteilten Formen vollzieht. Als solche Delikte kennt die Gesetzgebung Hochverrat, Aufruhr, Landesverrat und ein ganzes Arsenal neuerer Variationen, von denen oben in Kapitel II die Rede war.
Wenn Gerichte immer häufiger dazu angehalten werden, gegen politisches Verhalten einzuschreiten, in dem eine Schädigung der öffentlichen Ordnung erblickt wird, muss erkünstelten juristischen Konstruktionen erhöhte Bedeutung zukommen. Als strafbare politische Handlung erscheinen nicht mehr nur die zwei traditionellen Typen von Straftaten, das kriminelle Vergehen als politisches Werkzeug und das eigentliche politische Delikt. Immer mehr bekommen es die Gerichte mit neuen Deliktfabrikaten zu tun. Kein Gesetz kann Sanktionen für alle Typen des Handelns vorsehen, von denen vermutet werden kann, dass sie in irgendeiner künftigen Situation als kriminell schädlich gelten würden. Oft genug ist infolgedessen die konkrete Tat, in der die Staatsgewalt den sträflichen Niederschlag einer staatsgefährdenden politischen Haltung oder einer staatsfeindlichen politischen Verhaltensweise sieht, nach dem bestehenden Gesetz überhaupt nicht strafbar oder technisch so schwer zu fassen, dass sie sich der Strafverfolgung entzieht.