Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Die Probleme des Agenten, Doppelagenten oder Nachrichtenhändlers, der davon lebt, dass er Nachrichten kauft, verkauft oder fabriziert, brauchen uns hier nicht zu beschäftigen. Auf beiden Seiten der Grenze gibt es ein ganzes Heer von Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Spionage, Berichterstattung und Auslösung von wirklichen oder Ausnutzung von erfundenen Zwischenfällen bestreiten. In einem umfassenden Gesetzgebungswerk mit entsprechender Gerichtspraxis, die beide die größtmögliche Skala von Handlungen einzubegreifen suchen, sind die mannigfaltigen Betätigungsmöglichkeiten solcher Menschen vorausgeahnt oder post factum erfasst worden. Einst wurde Landesverrat mit den von ihm abgeleiteten Delikten als das verabscheuungswürdigste aller Verbrechen angesehen, und in vielen Ländern, in denen patriotische Normen nicht so ausgehöhlt worden sind wie im Gefolge der nationalsozialistischen Politik und ihrer katastrophalen Ergebnisse in Deutschland, wird Verrat an der Nation nach wie vor nicht auf die leichte Schulter genommen. Aber unter den heutigen deutschen Existenzbedingungen wiegt Agenten- oder Nachrichtendienstlicher Erwerb kaum schwerer als viele andere dunkle und unsichere Erwerbsbetätigungen, die es am Rande der Gesellschaft gibt.
Wegen Landesverrats und analoger Delikte (§§ 99-101 des Strafgesetzbuches) wurden in der Bundesrepublik 1954 57 Personen, 1955 125 Personen, 1956 202 Personen, 1957 232 Personen und 1958 235 Personen abgeurteilt, in fünf Jahren also 851; nimmt man noch die 1.073 Hochverrats- und Staatsgefährdungsfälle hinzu, so kommt man auf 1.924 abgeurteilte Personen, von denen 1.461 verurteilt wurden.78 Indes beliefen sich die bekanntgewordenen Fälle von Hochverrats-, Staatsgefährdungs- und Landesverratsdelikten zusammen 1954 auf 8.550, 1955 auf 8.073, 1956 auf 7.975, 1957 auf 12.600 und 1958 auf 13.823.79 Das ergibt in fünf Jahren die phantastische Zahl von 51.021 »bekanntgewordenen Straftaten« (zu denen 39.835 Täter »ermittelt« wurden).
Dafür, dass von den vielen Fällen, in denen Ermittlungen angestellt werden, nur ein geringer Teil zur Aburteilung kommt, fehlt bis jetzt eine zufriedenstellende Erklärung von amtlicher Seite. Möglicherweise dienen die vielen Ermittlungen, die kein gerichtliches Nachspiel nach sich ziehen, dazu, verdächtige politische Betätigungen, die nicht strafbar, also auch polizeilicher Kontrolle nicht unterworfen sind, aber unter Umständen zu strafbaren Handlungen führen könnten, mehr oder minder regelmäßig zu überwachen, das heißt in gewissem Sinne unter Polizeiaufsicht zu stellen.
Vielleicht ist aber die verstärkte politische Überwachungsarbeit der Polizeiorgane ihrerseits nur der Ausdruck einer besonderen politischkriminalistischen Atmosphäre. Nach amtlichen Angaben wurden in der Bundesrepublik und West-Berlin zwischen dem 30. August 1951 (bis dahin konnte Spionage strafrechtlich nicht verfolgt werden) und dem 31. Dezember 1959 insgesamt 1.799 »Agenten des Sowjetblocks« verurteilt; gleichzeitig hatten sich 16.500 Agenten freiwillig den Behörden gestellt, womit sie der Verfolgung entgingen. Von amtlicher Seite wird die Zahl der Mitarbeiter, die von östlichen Diensten pro Jahr auf die Bundesrepublik angesetzt werden, auf rund 16.000 geschätzt.80
Gewiss darf man unterstellen, dass diese Schätzung aus propagandistischen Gründen zu hoch ausgefallen ist, und man muss auch berücksichtigen, dass die Strafverfolgungsorgane kaum über die nötigen Maßstäbe verfügen, um zwischen Teilnehmern an inneren Umsturzbestrebungen und eindeutigen Spionageagenten zu unterscheiden. Anderseits darf man annehmen, dass die Westmächte ihrerseits ein nicht geringes nachrichtendienstliches Interesse an Vorgängen innerhalb des ostdeutschen Staatsgebildes haben. Schließlich kann man nicht außer Acht lassen, dass es Agenten gibt, die weder erwischt werden noch sich selbst stellen und deren Tätigkeit auch von Schätzungen der Ermittlungsorgane nicht erfasst werden kann. Bei allen Vorbehalten kommt man jedenfalls, wenn man alle Faktoren berücksichtigt, zu dem Schluss, dass die Spionage in Deutschland zu einem nicht unbeachtlichen Gewerbezweig geworden ist. Wahrscheinlich hält man sich noch an der unteren Grenze, wenn man vermutet, dass insgesamt etwa 25.000 Personen in beiden Teilen Deutschlands nachrichtendienstlich tätig sind. Natürlich sind die nichtamtlichen Geheimbeauftragten im Gegensatz zu den Angehörigen der »offiziellen Spionage« keineswegs immer hauptberuflich beschäftigt. Zählt man aber »Profis« und »Amateure« zusammen, so muss man vermuten, dass die Gesamtzahl der Agenten die Zahl der Berufspolitiker (gelegentlich gehen diese Kategorien ineinander über) östlich und westlich der Elbe übersteigt. Das ist etwas symptomatisch Neues und sagt einiges über den Gegenwartsstil der deutschen Politik aus.
In Deutschland ist im Vergleich zu anderen Ländern diese Art von Dienstleistungen besonders angewachsen, weil das Land gespalten ist und die Nachrichteninteressen einer Vielzahl fremder Staaten anzieht. Viel gewichtiger als die fragwürdigen Erfolge der Nachrichtendienstinflation sind ihre politischen Ausstrahlungen. Zu einem erheblichen Teil beruhen auf der Spionageatmosphäre die Neigung zur Geheimniskrämerei, die Seltenheit spontaner Willensbildung im politischen Bereich und der alles durchdringende Bürokratismus. Und gerade weil die Spontaneität im politischen Leben abstirbt, kommt es darauf an, wo in Wirklichkeit die Grenze verläuft zwischen unabhängiger, von Bindungen freier politischer Betätigung und der Tätigkeit von Agenten, die nach Weisungen fremder Auftraggeber und in deren Interesse arbeiten. Die meisten Menschen, die in der »Kontakt«-Domäne tätig sind, haben solche Auftraggeber, bisweilen mehrere gleichzeitig, und ihre »dienstlichen Verrichtungen« sind fast immer zweideutiger Natur.
Aus dieser spezifischen Situation waren einige bezeichnende Fälle entstanden, mit denen sich der deutsche Bundesgerichtshof in den letzten Jahren zu befassen hatte; wie der Unterschied zwischen Agententätigkeit und politischer Betätigung auf eigene Faust und aus eigenem Antrieb festzuhalten und zu bestimmen sei, war in diesen Fällen nicht nur von theoretischem Interesse, sondern auch praktisch bedeutsam. Eine weniger ausführliche Behandlung beansprucht, weil hier Aspekte mehr persönlicher Natur schwerer wogen als politische, das Verfahren gegen Otto John, den ersten Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz. John war auf etwas geheimnisvolle Weise nach Ost-Berlin geraten und hatte dort mit Staatsorganen der DDR eine Zeitlang in begrenztem Umfang zusammengearbeitet. Seine Mitwirkung an der offiziellen östlichen Propaganda spielte sich in einem Rahmen ab, der ungefähr seinen vorher schon bekannten Vorstellungen und Besorgnissen entsprach; über diesen Rahmen hinaus hatte sich John weder auf die kommunistische Ideologie noch auf ihren Jargon festlegen lassen. Aber er hatte Aussagen über eine »geheime Tätigkeit« der Organisation Gehlen in Frankreich und über »Geheimabreden« zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gemacht, von denen er später zugab, dass sie unwahr waren. Nachdem er etwa ein Jahr die Gastfreundschaft der DDR und der Sowjetunion genossen hatte, entkam er und kehrte freiwillig in die Bundesrepublik zurück. Er wurde wegen Verrats von Staatsgeheimnissen, landesverräterischer Fälschung und landesverräterischer Konspiration angeklagt und im Dezember 1956 vom Bundesgerichtshof abgeurteilt.
Der Aufbau seines Verteidigungsgerüsts ist hier, was die Details angeht, nicht von übergroßem Interesse: Dazu gehörte die Behauptung, die das Gericht nicht gelten ließ, er sei nach Ost-Berlin entführt worden; dazu gehörte die vom Gericht ebenfalls zurückgewiesene Entschuldigung, er habe sich auf eine Zusammenarbeit mit östlichen Propagandaorganen einlassen müssen, weil seine Sicherheit oder gar sein Leben in Gefahr gewesen sei. Von größerem Interesse ist Johns Gesamtverhalten: Der politische Stil, der sich in der Bundesrepublik herausgebildet hatte, war ihm fremd (oder fremd geworden), ohne dass er zum Gegenstil des Ostens bekehrt worden wäre. Er fand sich im zweigeteilten Land politisch nicht mehr zurecht und wurde zum Wanderer ins Nichts. Die aus einer Augenblickseingebung heraus unternommene Wanderung nach Ost-Berlin, die Halbheiten der Zusammenarbeit mit dem Osten und die Enttäuschung über den Osten, schließlich die überlegte und plangemäß vorbereitete Flucht zurück in die Bundesrepublik (John hätte in ein anderes Land fliehen können): In alledem äußert sich eher die tragische Ratlosigkeit eines labilen und unpolitischen Menschen als zielbewusstes politisches Denken und Handeln. Die vom Bundesgerichthof verhängten vier Jahre Zuchthaus erschienen nicht nur manchen kritischen Beobachtern, sondern auch dem Vertreter der Staatsanwaltschaft,