Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Manche Anhaltspunkte sprechen dafür, dass das in Moskau damals Vorgeführte vom heutigen jugoslawischen Regime in vielem befolgt wird: sowohl in Prozessen gegen oppositionelle Mitglieder der herrschenden Elite, als auch in Prozessen gegen Gegner, die nie zum Regierungslager gehört hatten. Am bezeichnendsten in der zuletzt genannten Kategorie war das im Sommer 1946 gegen den Kardinal Aloysius Stepinać durchgeführte Verfahren. Stepinać war aus mancherlei Gründen in einer taktisch nicht ungünstigen Lage. In seinem Prozess spiegelte sich mehr als ein bloß innerstaatlicher Konflikt. Er war ein hoher Würdenträger der katholischen Kirche, also einer mächtigen internationalen Organisation, auf deren loyale Unterstützung er bauen konnte.94 Darüber hinaus hatte der Kardinal einen gewissermaßen verbrieften Anspruch auf die Sympathien des kroatischen Volkes, nicht nur als dessen anerkannter religiöser Führer, sondern auch als der konsequente Verfechter der Forderung der Kroaten nach selbständiger nationaler Existenz. Wahrscheinlich hätte ihn Tito überhaupt nicht vor Gericht gestellt, wenn Stepinać der Regierung den Gefallen getan hätte, sein Amt niederzulegen und das Land zu verlassen.95 Auf der anderen Seite beruhte Titos stärkere Position darauf, dass die Kirche weitgehend zum Unterdrückungsregime der kroatischen Ustaši unter Ante Pavelić, das unter dem gemeinsamen Protektorat Italiens und Nazi-Deutschlands regierte, gestanden und sich mit ihm identifiziert hatte; das galt vor allem für die Bemühungen des Ustaši-Regimes, Massenübertritte Angehöriger der griechisch-orthodoxen Kirche zum Katholizismus zu erzwingen.
Stepinaćs Verteidigung war in vieler Hinsicht beeinträchtigt. Der Eröffnungsbeschluss war so spät gefasst worden, dass die Verteidigung vor Beginn des Prozesses nur sechs Tage zur Vorbereitung des Verfahrens hatte. Während die Anklagebehörde über ein schier unerschöpfliches Zeugenreservoir verfügte, ließ das Gericht nur wenige Entlastungszeugen zu. Es wies einen erheblichen Teil der von der Verteidigung unterbreiteten Entlastungsdokumente zurück. Es akzeptierte die wohlbekannte Vorkehrung des von der Regierung präparierten »Amalgams«: obgleich Stepinać ausdrücklich nur sein Verhalten während der Ustaši-Herrschaft und eine nicht ausreichend scharfe und gründliche Distanzierung von Anhängern des beseitigten Regimes zur Last gelegt wurden, verzerrte die Regierung das Bild absichtlich, indem sie mit dem Kardinal Menschen auf die Anklagebank setzte, die beschuldigt wurden, Terrorakte begangen zu haben. Dennoch wurde dem Angeklagten und seinen beiden Verteidigern in gewissem Umfang die Möglichkeit belassen, bestimmte Dinge herauszustellen und ihre Position klarzumachen. Zum peinlichsten und gefährlichsten Punkt, zur Frage der Zwangsbekehrungen, suchte einer der Verteidiger darzulegen, dass hier ein kleineres Übel einem guten Zweck gedient habe: der Rettung von Menschen, die nur auf diese Weise vor dem sicheren Tod hätten bewahrt werden können.96
Wie im Ebert-Beleidigungsprozess ist das Argument zwar plausibel, aber es beseitigt nicht die Ambivalenz des angefochtenen Verhaltens: Die Rettung der Verfolgten durch Bekehrung zum Katholizismus konnte zugleich auch den Zweck verfolgen, denen, die das Rettungswerk unternahmen, einen Ertrag zu sichern. Stepinać selbst lehnte es ab, auf die Frage der Bekehrung einzugehen: Da sein Gewissen rein sei, sagte er, könne er diese Frage dem Urteil der Geschichte überlassen.97 Sogleich ging er zum Gegenangriff über: Er nahm für sich das Recht in Anspruch, im Namen des kroatischen Volkes zu sprechen; er legte seine Stellung zum besiegten und zum siegreichen Regierungssystem klar; er warf der Regierung vor, dass sie das Jalta-Abkommen und die Atlantik-Charta mit Füßen trete. Was vor Titos Machtübernahme geschehen sei, könne ihm, Stepinać, nicht in die Schuhe geschoben werden. Damals hätten drei Regimes, die Exilregierung in London, Titos Partisanenkommando »in den Wäldern« und Pavelićs Machtapparat in Zagreb, gegeneinander gekämpft, und es sei seine Pflicht gewesen, die besten Mittel zum Schutze seines Volkes zu suchen. Er wandte sich scharf gegen Titos Kirchen- und Erziehungspolitik, bot aber der Regierung im selben Atemzug – als gleichberechtigte souveräne Macht – Verhandlungen über einen Kompromiss an, nicht ohne sie höhnisch aufzufordern, ihn doch zum Märtyrer zu machen. Das Gericht umging die Falle: Es verurteilte den Kardinal zu 16 Jahren Gefängnis; die Regierung wandelte diese Strafe später in Zwangsaufenthalt um: Stepinać war nicht im Gefängnis, durfte aber sein Heimatdorf nicht verlassen und ist dort gestorben.
Im Grunde lässt ein Prozess dieser Art die Kämpfenden in der Lage verharren, in der sie sich vor dem Prozess befunden hatten. Die entscheidenden Positionen bleiben, sowohl was das herrschende Regime als auch was seine Gegner angeht, in Gefolge des Prozesses unverändert. Da das Regime über sämtliche Machtmittel verfügt, wird es nicht verfehlen, das, worauf es ihm ankommt, gebührend herauszukehren, aber seinem Gegner lässt es – sei es aus Ritterlichkeit, sei es aus Gleichgültigkeit, sei es aus einem unerschütterlichen Überlegenheitsgefühl – die zweifelhafte Genugtuung, an die Geschichte appellieren zu dürfen. Natürlich benutzen beide Seiten alle erreichbaren Propagandakanäle, um ihre gegensätzlichen Versionen an den Mann zu bringen, wobei das Regime den Inlandsmarkt und sein Gegner häufig den Auslandsmarkt monopolisiert.
Bei solchen Prozessen gelten indes immer noch viele traditionelle Vorstellungen. Obgleich auch diese Prozesse dem Sicherheitsbedürfnis des Regimes Rechnung tragen, bleibt die Lösung, die sie bieten, äußerlich und unbefriedigend. Außer, wenn es dem Regime gelingt, den Gegner in einer Frage von unverkennbarer moralischer Tragweite in die Enge zu treiben, lässt das Gerichtsverfahren die Herrschaftsordnung weder legitimer noch weniger legitim erscheinen. Die Hürde, die nicht genommen werden kann, ist augenscheinlich der Angeklagte. Könnte dem Angeklagten im Rahmen eines Inszenierungsplans, der um eine objektive Situation herum aufzubauen wäre, eine bestimmte Rolle zugewiesen werden, so könnten die Machthaber den Prozess eher dazu benutzen, nach ihren Wünschen die Geschichte zu lenken: Der Prozess brächte dann nach den Bedürfnissen des Regimes die verlangten Bilder und Vorstellungen hervor. Er käme also als erzieherische Manipulation dem Ziel näher, in den Köpfen der Menschen eine nach dem Ebenbild der Machthaber veränderte Wirklichkeit entstehen zu lassen.
b) Fehlschlag eines Inszenierungsplans
Wie eine solche erzieherische Manipulation aussehen könnte, lässt sich an Hand des Falles Grünspan in Erfahrung bringen. Der Fall zeichnet sich dadurch aus, dass hier die Strategie und die Ziele derer, die der Anklagebehörde Weisungen erteilen, nicht erst aus dem tatsächlichen Verlauf eines Prozesses rekonstruiert zu werden brauchen: Die Denkschriften und Besprechungsprotokolle der mit der Durchführung des Falles Beauftragten liegen vor. Am 7. November 1938 gab Herschel Grünspan (in polnischer Schreibweise Grynszpan) im Gebäude der deutschen Botschaft in Paris auf den Gesandtschaftssekretär Ernst vom Rath mehrere Schüsse ab; vom Rath starb an den Folgen zwei Tage später. Der Täter wurde von den französischen Behörden verhaftet, vernommen und ärztlich untersucht, aber zum Prozess war es bis zum Sommer 1940 nicht gekommen; dann wurde er den deutschen Behörden auf deren Verlangen »überstellt«.98 Zunächst kam er ins Konzentrationslager Sachsenhausen, dann – im Sommer 1941 – ins Moabiter Untersuchungsgefängnis in Berlin. Die Reichsanwaltschaft beim Volksgerichtshof wurde vom Reichsjustizministerium angewiesen, gegen Grünspan Anklage zu erheben; da sich der Anschlag auf vom Rath angeblich mittelbar gegen die deutsche Staatsführung gerichtet habe, wurde er als hochverräterischer Akt ausgelegt und dementsprechend in die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs verwiesen.
Ob Grünspan von den französischen Behörden zu Recht ausgeliefert worden war, erschien ebenso zweifelhaft wie die Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit. Schon das allein bereitete den deutschen Behörden einiges Kopfzerbrechen. Darüber hinaus stand aber die Reichsanwaltschaft vor einer viel gewichtigeren praktischen Schwierigkeit. Spätestens 1942, vielleicht schon früher, ließ Grünspan die These fallen, dass er die Tat vollbracht habe, um gegen die Hitlersche