Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Vorgänge, in denen im schlimmsten Fall Gegensätze im Schoße der herrschenden Partei oder zaghafte und mehr oder minder erfolglose Versuche ihren Niederschlag gefunden hatten, mit anderen Befürwortern eines Führungs- oder Kurswechsels Fühlung aufzunehmen, erhielten plötzlich einen ganz anderen, unheilvollen Sinn. Frei erfundene Spionageverbindungen sollten nun begründen, warum die Angeklagten bereit gewesen seien, die schlimmsten Untaten zu vollbringen, und Versuche unternommen hätten, ihre verbrecherischen Pläne zu verwirklichen. Was wurde da nicht in der Anklage aufgezählt: Sabotage, Sachschaden, Zerstörung, Ermordung politischer Führer, Abmachungen mit feindlich gesinnten Mächten zur Vorbereitung kriegerischer Einfälle! In jedem konkreten Fall waren die Beschuldigungen auf tatsächlich oder angeblich erwartete Ereignisse abgestellt, die, wenn sie eingetreten wären, einerseits dem Lande schweren Schaden hätten zufügen und zum Sturz der regierenden Führungsgruppe führen, anderseits den Angeklagten die Gelegenheit hätten verschaffen müssen, in einer Krisensituation wieder an die Macht zu gelangen. Was den Angeklagten in den russischen Vorkriegsprozessen vorgeworfen wurde, entsprach in etwa dem, was nach den Moskauer Vorstellungen Nazi-Deutschland gegen die Sowjetunion im Schilde führen musste; die bösen Absichten, die den Angeklagten in den Nachkriegsprozessen in Osteuropa unterstellt wurden, hätten sich vielleicht in das Gebilde einer zur Abwehr der Unterjochung der einzelnen Länder durch die Sowjetunion errichteten Balkan-Föderation eingefügt.106
Um die ersonnene Alternativwirklichkeit auf die Leinwand zu projizieren, befolgten die Prozesse bestimmte Techniken, die treffend »Übertragungsregeln« genannt worden sind.107 Unter bald williger, bald widerwilliger Mitwirkung der Angeklagten wurden manche ihrer Denk- und Debattierschemen in die Sprache der Tat übertragen und für die hypothetischen Konsequenzen der so konstruierten Handlungen, die nie stattgefunden hatten, verantwortlich gemacht. Generalstaatsanwalt Vyšinskij und – mit weniger Geschick und Energie – einige seiner Nachahmer in den Satellitenstaaten brachten ihre Opfer auf diese Weise fast dazu, reumütig zu bekennen, dass sie, weil sie bestimmte Gefahrensituationen vorausgesehen hätten, eigentlich schuldig seien, dazu beigetragen zu haben, diese Situationen entstehen zu lassen. Nachdem die Angeklagten auf ständiges Drängen des Staatsanwalts hin zugegeben hatten, welche Konsequenzen sich aus ihrem hypothetischen künftigen politischen Tun hätten ergeben müssen, war es ein leichtes, mit ihnen weitere extreme Phantasiesituationen durchzuexerzieren, die sich wiederum aus diesen hypothetischen Konsequenzen mühelos folgern ließen. Schritt für Schritt nötigte die Anklagebehörde den Angeklagten Interpretationen ab, die zu den staatsanwaltschaftlichen Ausrechnungen über das Handeln passten, zu dem sich die Angeklagten hätten veranlasst sehen müssen, wären die hypothetischen Situationen je Wirklichkeit geworden.
Die Schwierigkeit, die sich dem Vorhaben der Anklagebehörde entgegenstellte, bestand darin, dass der Schuldbeweis fast nur durch Geständnisse der Angeklagten und Aussagen der Mitangeklagten erbracht und von keinerlei unbeeinflussten Zeugen außerhalb des Machtbereichs der Anklagebehörde bekräftigt wurde. Bei jeder Nachprüfung von Behauptungen der Anklagebehörde oder der Angeklagten über Personen im Ausland stellte sich unweigerlich heraus, dass diese Personen nicht nur die behaupteten Tatsachen unumwunden bestritten, sondern in vielen Fällen auch zu beweisen wussten, dass die in den Prozessen »gestandenen« Begebenheiten nicht stattgefunden haben konnten, weil sie logisch oder physisch gar nicht möglich waren.108 Diese Schwäche der Anklage konnte auch nicht dadurch wettgemacht werden, dass die Staatsanwaltschaft gelegentlich konkreter und plausibler zu werden versuchte, indem sie zum Beispiel Zeugen auftreten ließ, die mit den zentralen Tatbeständen des Verfahrens nichts zu tun und als völlig Unbeteiligte Tatorte und Begleitumstände der abzuurteilenden Straftaten zu schildern hatten. Diese Zeugen waren zwar in der Lage, über einige wahre, aber im Sinne der Anklage gleichgültige Vorkommnisse dies oder jenes zu sagen, jedoch gänzlich außerstande, den Verratscharakter der Dinge, mit denen sie zufällig in Berührung gekommen waren, zu bestätigen.109
Dass abscheuliche Verbrechen gestanden wurden, die um einer anderen politischen Orientierung willen begangen oder geplant worden sein sollten, konnte dazu benutzt werden, die den Staat und seine Politik bedrohenden Gefahren in grellen Farben auszumalen. Den akuten Charakter dieser Gefahren demonstrierte die Anklagebehörde, indem sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf eine organisierte Verschwörergruppe lenkte, der sie vorwarf, aktiv auf die Schaffung von Situationen hingewirkt zu haben, wie sie alle verständigen und loyalen Staatsbürger um jeden Preis würden vermeiden wollen. Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, ob die zumeist höchst subtilen Einschränkungen und Vorbehalte, die die Angeklagten in ihre Aussagen und Schuldbekenntnisse einfließen ließen, einem nennenswerten Teil der Bevölkerung oder auch nur der Parteimitgliedschaft aufgefallen sind.
Das Geständnis als Ausdruck der Reue und des Zusammenstehens aller in der Stunde der extremen Gefahr ist eine der Methoden, über die das Regime verfügt; die andere bestände darin, dass man es dem Gegner auch im Prozess überließe, seine bleibende Gegnerschaft zum Ausdruck zu bringen, und die Unüberbrückbarkeit des Konflikts bewusst betonte. Beide Methoden haben ihre Vorteile und ihre Nachteile. Die Methode der Geständnisse, die darauf baut, dass der Angeklagte eine Reihe erdichteter Verbrechen zugibt, kann gerade infolge des übertriebenen Ausmaßes der zugegebenen Risse im Mauerwerk des Staates negative Reaktionen in der Bevölkerung auslösen. Das bestehende System, zu dem die Angeklagten lange als fester und wichtiger Bestandteil gehört hatten, muss von Korruption zerfressen sein und auf tönernen Füßen stehen, wenn man daran glauben soll, dass es beim geringsten Anstoß zusammenstürzen kann. Anderseits kann die Tatsache, dass man das offen ausspricht, einen Schock auslösen und die Bevölkerung dazu bringen, die Reihen zu schließen oder doch mindestens darauf zu verzichten, aus der Unzufriedenheit mit konkreten Missständen weitgehende politische Forderungen abzuleiten. Schließlich aber entlarvt das Geständnis die Gegner des Regimes als bösartige und niederträchtige Geschöpfe und bringt sie (sofern sie überleben sollten) um die Chance, jemals wieder zum Kristallisationspunkt oppositioneller Kräfte zu werden. Vielleicht kommt es auf diese Überlegung am meisten an, wenn das Regime die Vor- und Nachteile der beiden Methoden – des präparierten Geständnisses und des offenen Auftretens des Gegners im Gerichtssaal – miteinander vergleicht. Sogar wenn man den Angeklagten ein für alle Mal zum Schweigen gebracht hat, kann die mythisch verklärte Erinnerung an seinen Widerstand zum ewigen Memento, zum unauslöschlichen Symbol werden.
Die grundsätzliche Entscheidung darüber, wie man in einer nichtrechtsstaatlichen Situation mit vor Gericht gestellten Gegnern verfahren solle, kann, zumal wenn es sich um Mitglieder der herrschenden Partei handelt, aus vielen komplexen Faktoren hervorgehen. Mitwirken können dabei die Bilanz der historischen Erfahrung, die konkreten zeitlichen und räumlichen Bedingungen und die persönlichen Züge der Akteure hüben und drüben. In Polen, Jugoslawien und Ostdeutschland haben die herrschenden