Politische Justiz. Otto Kirchheimer

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Politische Justiz - Otto Kirchheimer

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Personen vorgebracht und erhärtet wird, und damit verengt sich die Möglichkeit der Wahl zwischen gerichtlichen und administrativen Mitteln. Den rein objektiven Kriterien, nach denen die Entscheidung zu treffen ist, kann gewiss, wenn das verhaftete Opfer mitmacht, Genüge getan werden, so dass das Verfahren doch noch den Anschein behält, als werde die persönliche Verantwortung für bestimmte strafbare Handlungen ermittelt; aber die Zahl der Fälle, in denen sich das, was wirklich vorgefallen ist, auf diese Weise zurechtbiegen oder umfrisieren lässt, ist aus praktischen Gründen begrenzt. Rein administratives Vorgehen wird fast unabwendbar, wenn sich die Maßnahmen gegen Massen von Menschen richten und in großer Eile durchgeführt werden sollen; so war es in der Sowjetunion bei der »Liquidierung des Kulakentums« oder bei der Zwangsaussiedlung ganzer Völkerschaften in entlegene asiatische Gebiete, und so war es in der neuesten Zeit in Algerien, als großen Teilen der Bevölkerung Zwangsdomizil zugewiesen wurde. Ob im Dritten Reich gerichtlich oder außergerichtlich verfahren wurde, hing häufig von dem Zeitpunkt ab, zu dem das Opfer in feindliche Berührung mit dem Regime oder seinen Anhängern geriet: Es passierte oft genug, dass alte Gegner des Regimes, die sich vielleicht neuerdings gar nicht mehr aktiv hervorgetan hatten, in Konzentrationslager gesteckt, Gegner dagegen, die mit neueren oppositionellen Bekundungen aufgefallen waren, vor Gericht gestellt wurden, was allerdings auch nur eine Zwischenstation auf dem Weg ins Konzentrationslager sein konnte. Ausschlaggebende Gesichtspunkte sind das nie; die Gesichtspunkte, die jeweils den Ausschlag geben, ändern sich ständig mit der wechselnden politischen und administrativen Lage.

      Einen eindeutigen Schluss auf den für das jeweilige Regime charakteristischen Grad der Brutalität und des Terrors erlaubt weder die ausschließliche Inanspruchnahme der Gerichte noch der ausschließliche Gebrauch administrativer Maßnahmen, weder die relative Verwendungshäufigkeit beider noch die abwechselnde Benutzung des einen oder des anderen Weges: Nach einer gewissen Übergangszeit können sich Gerichte und Organe der Exekutive einander angeglichen und dieselben Wesensmerkmale entwickelt haben. Ein gewisser Unterschied wird allerdings immer bestehen bleiben, weil das Gerichtsverfahren und die Ziele, die mit der Übertragung eines Falles auf die Gerichte verfolgt werden, einen besonderen Charakter behalten. Werden menschliche Schicksale im Zuge eines bürokratischen Verfahrens entschieden, so geschieht das auf Grund allgemeiner Weisungen und für die »Ablieferung« unzuverlässiger oder potentiell unzuverlässiger Elemente festgesetzter Kontingente. Im Gerichtsverfahren muss aber das ausersehene Opfer wenigstens eine begrenzte Möglichkeit haben, eine selbständige Rolle zu spielen. Das Opfer ist nicht mehr eine bloße Nummer in einem allgemeinen Verwaltungsprogramm; es wird zum individuellen Angeklagten, dem die Möglichkeit gewährt wird, seinen Anklägern gegenüberzutreten und ihnen zu antworten, ohne wegen seines Verhaltens im Gerichtssaal physischem Zwang ausgesetzt zu sein. (Das schließt natürlich nicht aus, dass dem Angeklagten in der vorgerichtlichen Phase des Verfahrens mit physischen oder psychischen Druckmitteln zugesetzt wird.) Das sind bescheidene Mindestvoraussetzungen, die dem öffentlichen Gerichtsverfahren in den verschiedensten politischen Regimes zugestanden werden; sie gelten auch für politische Systeme, die in dieser oder jener Beziehung von rechtsstaatlichen Gepflogenheiten abweichen, also auch für die Prozesstechnik des Sowjetbereichs in der Ära Stalin wie vor und nach ihr.

      a) Vorstadien des Schauprozesses

      Die Sphäre des politischen Prozesses, der sich nicht an rechtsstaatliche Normen hält, wird nicht einmal in Osteuropa von der Prozesstechnik Stalinschen Gepräges ausschließlich beherrscht. Recht beharrlich behauptet sich auch dort eine ältere Praxis des politischen Prozesses: die gerichtliche Erledigung politischer Gegner unter weitgehender Beschneidung der verfahrensmäßigen Rechte des Angeklagten, von Gerichten gehandhabt, die parteilicher und parteiischer sind, als das in politischen Prozessen unter verfassungsmäßigen Bedingungen der Fall zu sein pflegt. Eine große Rolle spielen in solchen Verfahren parteiische Zeugen, ohne dass ihnen das Feld ganz überlassen bliebe. Hier gibt es aber in der Regel noch nicht den Versuch, den Angeklagten zum willenlos Mitwirkenden an dem von den Machthabern ausgeheckten Inszenierungsplan zu machen. Manchmal kann er sogar, auch wenn er damit ein zusätzliches Risiko auf sich nimmt, in dem einen oder anderen Einzelpunkt gegen die Anklagebehörde recht behalten, zumal wenn ihm, was bisweilen vorkommt, ein Verteidiger zugebilligt wird, der keine bloße Marionette ist. Jedenfalls hat der Angeklagte hier noch die Chance, dem Regime einen Fehdehandschuh ins Gesicht zu schleudern und vor Zuhörern den Abgrund zu zeigen, der ihn von der offiziellen Glaubenslehre trennt.

      In Russland wurde dies Modell in den ersten Revolutionsjahren, als die Revolution von innerer Gärung, wirtschaftlichem Chaos und ausländischer Intervention bedroht war, in ziemlich weitem Umkreis befolgt. Neben administrativen Terrormaßnahmen, die ohne Wahrung irgendwelcher Rechtsformen gehandhabt wurden, gab es politische Prozesse. In manchen Fällen waren die Beschuldigungen, die bis vors Gericht kamen, reine Fabrikation. In etlichen Verfahren wegen terroristischer Akte, in denen den Angeklagten Beziehungen zu regierungsfeindlichen Parteien nachgesagt wurden oder nachgewiesen werden konnten, ging die Regierung darauf aus, die Parteiführer für die Handlungen ihrer Mitglieder oder Anhänger verantwortlich zu machen. Solche Prozesse hatten eine Doppelfunktion: einerseits konnte mit ihrer Hilfe die Politik der Unterdrückung der belasteten Parteien gerechtfertigt, anderseits die auch nach und trotz der Verurteilung mögliche und oft praktizierte Prämierung derer plakatiert werden, die bereit waren, sich mit dem Regime zu verständigen.

      Im denkwürdigsten dieser Prozesse wurden im Juni und Juli 1922 einige prominente Führer der Partei der Sozialrevolutionäre (SR) abgeurteilt. Auf Grund einer im April 1922 bei einer Berliner Besprechung der drei feindlichen Internationalen (der Zweiten, der »Zweieinhalbten« und der Kommunistischen) getroffenen Vereinbarung nahmen an der ersten Phase deutsche und belgische sozialistische Anwälte als Verteidiger teil; Voraussetzung ihrer Teilnahme war die Zusicherung, dass bestimmte prozessuale Garantien eingehalten und keine Todesurteile gefällt werden würden. Die erzieherisch-propagandistische Absicht, die die Sowjetregierung verfolgte, kam darin zum Ausdruck, dass gegen zwei Gruppen von Angeklagten verhandelt wurde: einmal gegen weithin bekannte SR-Führer, die treu zu ihren Parteigrundsätzen standen und ihre Gegnerschaft zur Sowjetregierung nicht aufgaben, zum andern aber gegen weniger bekannte SR-Funktionäre, die sich von der Politik der eigenen Partei losgesagt hatten, ihre Sowjetgegnerschaft bereuten und zur Zusammenarbeit bereit waren. Dass hier »gute« gegen »böse« SR ausgespielt wurden, zeigte aber zugleich auch, dass der Prozess noch zum Bereich der älteren Tradition gehörte.

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