Politische Justiz. Otto Kirchheimer
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Der Zeuge kann verschiedenerlei Bindungen und Verpflichtungen haben. Zuallererst ist er an die Rolle gebunden, die in dem zur Erörterung stehenden Geschehen ihm selbst zugefallen war. Was der Zeuge über die Handlungen, Äußerungen oder Motive des Angeklagten zu sagen hat, ist notwendigerweise durch seine eigene Stellung in dem Ereignis gefärbt, das nun der Geschichte angehört. Er kann, was die weitergespannten Ziele angeht, des Angeklagten oder Klägers politischer Gegner gewesen sein oder mit Angeklagtem oder Kläger im Wettstreit um Gefolgschaft oder Einfluss gestanden haben. Er kann dessen politischer Partner und persönlicher Freund oder Gesinnungsgenosse und persönlicher Rivale gewesen sein. Wird er jetzt aufgefordert, die Rolle des Angeklagten oder des Klägers in eine lose Folge von Handlungen, Stellungnahmen, Äußerungen, Beziehungen aufzulösen, die den nun unter die Lupe genommenen Vorgang ausgemacht hatten, so bestimmt natürlich seine eigene Rolle von damals in der Hauptsache seine Aussage von heute.
Heute sind jedoch die politische Stellung und die politischen Bindungen des Zeugen nicht notwendigerweise dieselben, die sie gestern waren; das kann zur Folge haben, dass seine Rolle oder die des Angeklagten im Lichte der neueren Bindungen eine mehr oder minder deutliche Verschiebung erfährt. Die Verschiebung kann minimal sein, wenn der Zeuge von der politischen Bühne als aktiver Kämpfer abgetreten ist. Aber dann ist es möglich, dass seine Ansichten und Perspektiven in dem Zeitpunkt, da er abtrat oder hinausgedrängt wurde, »eingefroren« sind, so dass jedes Wort, das er heute äußert, nur dem Zweck dient, seine frühere Haltung und seine Deutung des Ablaufs der Dinge »posthum« zu rechtfertigen. Spielt aber der Zeuge weiterhin auf einer Bühne mit, auf der seine Zukunft und die des Angeklagten noch unentschieden sind, so kann sein erster und einziger Gesichtspunkt Vorsicht sein. Ohne so sehr interessiert zu sein, dass ihm daran liegen müsste, die Tatsachen zu verfälschen, mag er geneigt sein, sie im Halbdunkel zu lassen; im Zwielicht sieht sich manches anders an: Tout comprendre c’est tout pardonner. Wer dagegen von der Vorstellung ausgeht, dass sein Schicksal oder das Schicksal seiner Organisation davon abhängt, wie er den umstrittenen geschichtlichen Vorgang darstellt, wird sich nicht scheuen, das Libretto umzuschreiben. Was an jeder unabgeschlossenen Situation vieldeutig und unentschieden bleibt, verschwindet dann radikal. Wer das, was geschehen ist, aus einer späteren Sicht rückblickend betrachtet, kann es so retuschieren, dass nur noch eine Deutung übrigbleibt.
Neben solchen Zeugen treten in Prozessen, in denen es nicht auf gestellte Geständnisse, sondern auf echte Beweismittel ankommt, unweigerlich auch die altvertrauten Gestalten des Spitzels und des Überläufers auf. Als Zeugen sind sie deswegen nicht ganz geheuer, weil sie zu perfekt sind. Ihre Enträtselung des Geheimnisses liefert die auf den ersten Blick plausibelste und brauchbarste Rekonstruktion dessen, was vorgefallen sein könnte. Muss aber das Einleuchtende die Wahrheit sein? Die logische Lösung braucht dem wirklichen Ablauf der Dinge nicht näher zu sein als ein Gewirr widerspruchsvoller Details, aus dem sich ein Bild nur mühselig zusammenstückeln lässt. Mit dem logisch einwandfreien Ergebnis können aufschlussreiche Zwischenstadien, die den dunklen Vorgang erst verständlich machen, verwischt werden oder ganz ausfallen, denn die logische Rekonstruktion ist nicht die Wiedererweckung dessen, was war, sondern eine Neuinszenierung nach einer erdachten Vorlage.
Was mit Hilfe von Zeugenaussagen rekonstruiert wird, kann in vieler Hinsicht Unergiebiges hervorbringen. Der Drang, auf dem Wege der Umdeutung der Vergangenheit die eigene Rolle von gestern zu rechtfertigen und auf die Realität von morgen einzuwirken, ist mitunter mächtiger als alle Wahrheitsliebe. Erinnerung und Umdeutung werden dann auswechselbare Größen. Allerdings gibt es eine Art des politischen Prozesses, auf die das weniger zutrifft. Beobachtete Bruchstücke ungeklärter Tatzusammenhänge sind nicht unbedingt der Niederschlag komplizierter Ereignisse, die nur dadurch zustande gekommen sind, dass viele Menschen auf verschiedene Weise aufeinander und auf Dritte eingewirkt haben. So manche verwickelt anmutende Situation reduziert sich bei näherem Zusehen auf einen einfachen Alltagsvorgang, mit dem jeder vertraut ist, weil er ihn selbst miterlebt oder die Geschichte im lokalen Teil der Zeitung gelesen hat. Ob die Person A die Person B gekannt, ob die Person C Geld oder Papiere in Empfang genommen oder ob die Person D die Person E mit einer Schusswaffe verwundet hat, braucht nicht zweifelhafter oder komplizierter zu sein als ein beliebiger Vorgang aus dem normalen Tagesablauf.
Wenn sich der politische Prozess in dieser Ebene des tagtäglichen Geschehens abwickeln lässt, ist die Hürde der zweifelhaften Zeugenaussagen nicht gefährlicher als im gewöhnlichen Strafverfahren: Der Doppelrolle des Zeugen, der an der geronnenen Geschichte mitgewirkt hat und die werdende Geschichte aktiv zu beeinflussen sucht, kommt in diesem Fall keine große Bedeutung zu. Freilich gehört dazu noch eine weitere Voraussetzung: Damit aus den einfachen Alltagstatsachen Schlüsse gezogen werden können, die allgemeine Anerkennung finden, muss weitgehende Übereinstimmung darüber herrschen, was diese Tatsachen besagen.
Das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das vielleicht noch nicht vergessen ist. Im Spionage- und Landesverratsprozess gegen Alger Hiss, den langjährigen hohen Beamten des amerikanischen State Department, hatte der Angeklagte selbst die umstrittenen Probleme ausgeschaltet, denen bei den oben wiedergegebenen Verfahren so große Bedeutung zukam: Da Hiss seine unbedingte Staatstreue betonte und die ihm vorgeworfenen Handlungen leugnete, stand hier nicht zur Diskussion, wo staatstreues Verhalten an die Grenze des Verbotenen herankomme und welches äußerlich staatsfeindliche Verhalten gerechtfertigt werden könne und dürfe. Da 1949, als der Prozess stattfand, in den Vereinigten Staaten fast absolute Übereinstimmung darüber bestand, wie die Außenpolitik des Staates aussehen sollte, hätte Hiss schwerlich eine andere Stellung beziehen können. Damit entfiel aber auch die Frage, ob die geheimen Staatspapiere, die er dem für die Sowjetspionage tätigen Mittelsmann Chambers geliefert haben sollte, wichtig oder unwichtig gewesen seien oder ob ihre Weitergabe aus dem Gesichtswinkel einer anderen außenpolitischen Orientierung als den nationalen Interessen abträglich oder zuträglich angesehen werden könne; ebenso entfiel die Frage, ob die Befürwortung einer anderen Politik ein entschuldbares Motiv hätte sein können.112 Weil Hiss für sich unanfechtbaren Patriotismus und einwandfreies dienstliches Verhalten in Anspruch nahm, ging es im Prozess nicht darum, seine politische Einstellung zu durchleuchten oder zu interpretieren oder die edlen Motive strafbarer Handlungen herauszustellen; zu klären war nur, ob sich bestimmte Dinge ereignet oder nicht ereignet hatten. Damit glitt aber der Prozess in die Ebene der Quidproquos, Tarnungen, Tricks und Verschlüsselungen eines verwickelten Kriminalromans ab. Wenn sich aus dem Beweismaterial eindeutig feststellen ließ, dass Hiss auch nach seinem Eintritt ins Außenministerium mit dem ihm als Kommunist bekannten Chambers verkehrt hatte, und wenn ausreichende Beweise – dem Gericht lag eine problematische, aber durch recht beachtliche Indizien bekräftigte Zeugenaussage vor – dafür beigebracht werden konnten, dass Hiss dem Chambers geheime Kabel aus seinem Amt hatte zukommen lassen, war der Fall für die Gerichte damit abgeschlossen. Alles, was darüber hinausging, mochte Sache der Öffentlichkeit sein, ging aber die Gerichte nichts an.
Ist das Verfahren vor Gericht abgeschlossen, so setzt ein anderer Prozess ein: Die vor Gericht erörterten Bruchstücke von Geschehnissen und Handlungszusammenhängen verdichten sich zu einem vereinfachten Bild der politischen Wirklichkeit. Das ist ein kollektiver Prozess, der sich gleichzeitig in Millionen von Köpfen vollzieht; er