Im Schlaraffenland. Heinrich Mann
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Читать онлайн книгу Im Schlaraffenland - Heinrich Mann страница 12
Andreas verbarg ein überlegenes Lächeln. Er hatte im »Café Hurra« allerlei über das Privatleben des berühmten Dichters erfahren. Wennichen bezog nur noch halbe Honorare, da er seit fünfzig Jahren immer dieselben Romane verfasste, die niemand mehr las. Er hatte Unglück mit seinen Kindern gehabt, seine Frau war ihm nach unzähligen Liebschaften endlich ganz und gar durchgegangen. Er hatte das alles kaum bemerkt. Er sah nichts von den Veränderungen der Zeit seit achtundvierzig, als er sein erstes Buch schrieb von dem braven jungen Kaufmann, der sich Eintritt in die gänzlich verrottete Adelsfamilie erzwingt, deren Tochter er merkwürdigerweise heiratet. Auch heute noch lebte Wennichen unter braven freisinnigen Kaufleuten, die mit übermütigen Junkern und pfäffischen Finsterlingen in edlem, uneigennützigen Kampfe lagen. Der arme Greis dauerte Andreas, dem es Genugtuung bereitete, einen Dichter aus der Nähe beurteilen zu können, den er früher in Gumplach als einen Stern der Literaturgeschichte angestaunt hatte.
Wennichens Ausfall gegen die Feinde des Lichtes erntete einige Beifallsrufe, doch neben Andreas begann plötzlich Liebling mit wohltönender, kräftiger Baritonstimme zu sprechen. Er sagte:
»Wollen wir die Freiheit, ich meine die wohlverstandene Freiheit erhalten, so müssen wir das Volk zu regieren wissen. Das Volk ist in seiner Wehr- und Urteilslosigkeit leider stets bereit, sich den verführerischen Werbungen der Reaktionäre zu ergeben. Wir müssen es gegen sich selbst verteidigen, und dies kann nur geschehen mittelst forca, farina, e feste!«
»Aha! Aus dem Effeff!« bemerkte ein witziger Herr.
Man rief lachend durcheinander.
»Ist das Ihre neue Erfindung, Liebling?«
»Sie Scherzbold!«
»Er hat aber recht«, erklärte jemand, der offenbar italienisch verstand. »Geben wir dem Volke nicht Brot und Feste, so kommen wir selbst früher oder später an den Galgen.«
»Meine Herren!« fuhr Liebling fort. »Die eben ausgesprochene Überzeugung ist längst fest in mir begründet. In ernster Überlegung habe ich sie an demjenigen Volke erprobt, das meinem Herzen am nächsten steht. Wenn es mir und Gleichgesinnten je gelingen sollte, dieses Volk in das ihm zugehörige und ihm noch immer gelobte Land heimzuführen, glauben Sie, dass wir es durch Parlamente und Presse unglücklich machen würden? Die europäische Korruption soll von unserem Boden verbannt sein!«
»Bravo!« erscholl es einstimmig unter Lachen.
Man schüttelte dem Redner die Hände. Andreas kam es so vor, als würde Lieblings »Zionismus« nicht recht ernst genommen, während er ihm doch eine besondere Stellung verschaffte. »Es könnte also nichts schaden, ebenfalls irgendeine Marotte zu haben«, sagte sich Andreas.
Indes hob sich ganz hinten ein nachlässig gekleideter Herr auf die Zehenspitzen. An dem stupiden Bullenbeißergesicht und dem nicht ganz reinlichen Klappkragen erkannte Andreas den Abgeordneten Tulpe.
»Unsinn!« rief murrend dieser Politiker. »Wenn das Bürgertum die Prinzipien von achtundvierzig aufgibt, so gibt es sich selbst auf!«
Liebling schickte sich zu einer Erwiderung an, aber ein jeder bemühte sich, seine Meinung zur Geltung zu bringen, die Damen am lautesten. Nur Wennichen stand lächelnd und kopfschüttelnd dabei. Liebling hätte seine ausschweifenden Überzeugungen auf chinesisch äußern können und er wäre für Wennichen nicht unverständlicher geblieben.
»Aber ich bitte Sie, meine Herrschaften«, sagte plötzlich mit schriller Stimme ein herzutretender Herr.
»Ratibohr ist da«, raunte man sich zu. »Er setzt heute Abend den Fuß hier herein? Doch mal einer, der nicht an Schüchternheit leidet!«
Unwillkürlich machten die Nächststehenden ihm Platz, man schien Ratibohr zu fürchten. Er war hager, mit nervöser Kraft in den Bewegungen und von galliger Gesichtsfarbe. Seine Habichtsnase und sein scharfer Blick forderten jeden heraus, der irgendetwas gegen ihn einzuwenden haben sollte. Seine Eleganz erinnerte an Börse und Fechtsaal. Ratibohr hatte gleichviel vom Duellanten und vom Jobber und machte einen umso gefährlicheren Eindruck. Auch ließ er achtunggebietende Geheimnisse hinter seinem Namen ahnen. Er sagte:
»Vertragen wir uns doch, meine Herrschaften! Es ist ja Nebensache, wie regiert wird. Die Geschichte wird schon noch ’n bisschen zusammenhalten.«
Er vollführte eine rasche, alles entscheidende Handbewegung, wobei sein silbernes Armband um das Gelenk klirrte. Seine Meinung fand den größten Beifall. Andreas blickte auf Ratibohr voll Neid und Bewunderung. Den Leuten schon durch sein Erscheinen Respekt einflößen wie er, welch ein Traum! Doch setzten diese Leute ihn in Erstaunen. Seit er auf dem Berliner Pflaster spazierenging, sah er sie als die herrschende Klasse an, und nun fand er sie so wenig einig über die Grundlagen ihrer Herrschaft. Der bürgerliche Absolutismus, den Liebling vorschlug, lag wohl in ihrem Interesse. Gleichzeitig mochte ihr Vorteil erfordern, so zu tun, als teilten sie noch die fünfzig Jahre alten Ansichten Wennichens. Ihre innere Neigung dagegen schien Ratibohr ausgesprochen zu haben: es war Nebensache, wie regiert wurde. Andreas beschloss, sich diese Überzeugung anzueignen, die ihm eines Weltmannes würdig erschien, und der Entschluss ward ihm nicht schwer.
Indes begann der junge Mann nach dem langen Umherdrängen und Stillstehen seine Müdigkeit zu fühlen. Das unnütze Gerede, das ihn in seinen Absichten nicht vorwärtsbrachte, ward ihm auch zu viel. Er suchte erfolglos nach einem passenden Sitz. Es standen dort breite Stühle aus braunlackiertem Holz mit zart bemalten Seidenpolstern, aber ihre Lehnen waren steif und schmal wie Leitern. Andere Sessel hatten einen dreieckigen Rücken, oder es fehlten ihnen die Armstützen. Noch andere waren so niedrig, dass er seine Beine nicht ohne Verlegenheit unterbringen konnte. Kein Sitz gewährte Andreas die Möglichkeit, sich eine zwanglose und der persönlichen Würde angemessene Haltung zu geben.
Höchst