Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof. Michael Möseneder
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„Es war für mich überraschend und auch beschämend“, konzediert der Angeklagte. „Haben Sie das auch artikuliert?“, fragt der Vorsitzende. „Ja.“ – „Wie?“ – „Ich habe gesagt: ‚Geh weg!‘ Ein anderer Koch und ein Kellner haben das gesehen.“ Befragt wurden die beiden Zeugen dazu im Ermittlungsverfahren noch nicht. Seltsam scheint auch, dass W.s Mutter an dem Tag als Gast im Lokal gewesen ist und W. nach dem Angriff gebeten haben soll, eine Torte in Herzform für ihre Mutter zu backen.
Eine Begegnung im Keller habe es mit Frau W. durchaus gegeben. Er habe Teig geholt. Da der Speisenaufzug in die Küche wieder einmal nicht richtig funktionierte, habe er nach oben um Unterstützung gerufen. Plötzlich sei Frau W. da gewesen, er habe sie gefragt, ob sie mit ihm und Kollegen nach der Arbeit etwas trinken gehen wolle.
„Vorher haben Sie gesagt, das Abschlecken sei beschämend gewesen, und jetzt sagen Sie, Sie haben Frau W. kurz darauf eingeladen?“, ist die Anklägerin skeptisch. Gemeinsame After-Work-Drinks der Kollegenschaft seien üblich gewesen, hört sie als Antwort.
Bauer wird dagegen bei einem anderen Umstand misstrauisch. Er will von S. wissen, ob er von Vorgesetzten auf die Anschuldigung W.s angesprochen worden sei. Der Angeklagte bejaht, sagt aber, es sei mehrere Wochen später gewesen. Er sei von der Polizei über die Anzeige informiert worden und habe seinen Chef gebeten, ihm das amtliche Schreiben zu übersetzen.
Die Geschäftsführerin und Gattin des Chefs sagt allerdings, ihr Mann habe S. am 30. oder 31. August mit W.s Vorwürfen konfrontiert. Sie selbst habe am 30. davon erfahren. W. sei an diesem Tag, vier Tage nach der angeklagten Attacke, zum Restaurantleiter gegangen, der habe die Frau zu ihr geschickt, erinnert sich die Zeugin.
„Es war der erste Tag, an dem ich W. wiedergesehen habe“, erzählt die Geschäftsführerin. „Ich habe ihr dann gesagt, dass mein Mann sofort ein ernstes Wort mit S. sprechen wird und dass das aufzuklären ist.“ W. habe auch angekündigt, dass sie kündigen wolle. „Wir haben vereinbart, dass sie noch bis Ende der Woche bleibt und wir die Dienste tauschen, damit sie nicht mit S. arbeiten muss.“ Frau W. wollte aber keine Dienstplanänderung und sprach sich auch gegen das Mitarbeitergespräch und einen Gang zur Polizei aus. Am nächsten Tag arbeitete sie noch und erschien nie wieder in dem Lokal.
Zur Polizei ging W. erst im Jänner 2018. Und gab dort Dinge zu Protokoll, die die Geschäftsführerin nicht recht nachvollziehen kann. Etwa dass die Pizzabäcker ständig mit den jungen Kellnerinnen geflirtet hätten. Oder nach dem Vorfall neun oder zehn andere Mitarbeiterinnen deshalb gekündigt hätten. „Nein, es war ein Wechsel wie immer. Es hat auch niemand so was als Begründung angegeben“, sagt die Geschäftsführerin dazu.
Noch verblüffter ist die Zeugin, als weiter aus dem Protokoll zitiert wird: Demnach habe sie W. „abgeschasselt“, vor der Kündigung in Zwangsurlaub geschickt und ihr mit einer Anzeige wegen Rufschädigung gedroht, falls sie von dem angeblichen Angriff erzählen sollte. Der Inhaber habe die Sache mit einem „Tabu“ belegt und jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin mit einer Verwarnung gedroht, sollte über den Fall gesprochen werden. Dieser Darstellung widersprechen nicht nur die Zeugin, sondern auch der Restaurantleiter und eine weitere ehemalige Kellnerin.
Frau W. wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit über eine Stunde lang befragt. Am Ende vertagt der Vorsitzende auf unbestimmte Zeit, da das Ermittlungsverfahren aus seiner Sicht unzureichend gewesen ist. Er will weitere Zeugen hören und auch ein Sachverständigengutachten einholen. Da dieses beantragt wurde, während die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, darf er nicht verraten, worum es in der Expertise gehen soll.
Die hehre Absicht des Schutzes des höchstpersönlichen Lebensbereiches von S. erweist sich am zweiten Prozesstag als vergebliche Liebesmüh. Denn sowohl Staatsanwaltschaft, die Anwältin von W. und die Verteidigung gehen auf das mysteriöse Gutachten ein. Dessen Inhalt: die von einem Sachverständigen erhobene Krümmung des Geschlechtsteils des Angeklagten.
Die Bedeutung dieser Expertise wird mit dem Auftritt der ersten Zeugin am zweiten Verhandlungstag klar. Die war zur fraglichen Zeit ebenfalls Kellnerin in dem Lokal. Und hatte ein sexuelles Verhältnis mit dem Angeklagten. „W. hat mich am Tag nach dem Vorfall angerufen und erzählt, dass S. sie belästigt hat“, erinnert sich die Zeugin. W. habe auch die ungewöhnliche Form des Geschlechtsteils von S. beschrieben, daher habe sie ihr geglaubt.
Am ersten Verhandlungstag hatte S. noch behauptet, dass an seiner Erektion nichts Ungewöhnliches sei. „Weil es für mich normal ist“, sagt er nun dazu. Zusätzlich vermutet er, dass sich W. bereits vor dem inkriminierten Vorfall mit der Zeugin über seinen Penis ausgetauscht habe. „Unter Frauen spricht man sicher darüber, wie ein Mann gebaut ist“, mutmaßt er.
Doch auch der nächste Zeuge stützt W.s Version. Der Ex-Freund der jungen Frau erinnert sich, dass W. ihn am fraglichen Tag unbedingt sehen wollte. Als er sie von der U-Bahn abholte, habe sie zu weinen begonnen und erzählt, dass sie in der Arbeit belästigt worden sei. „Ich dachte zuerst, jemand ist gestorben, ganz ehrlich“, fasst er W.s Gemütslage zusammen. Versuche, sie zu einer Anzeige zu überreden, seien aber damals gescheitert.
Eine weitere Mitarbeiterin behauptet, einmal selbst unliebsame Erfahrungen mit S. gemacht zu haben. „Wir waren im Abenddienst, ich ging im Keller auf das WC. Als ich herauskam, stand er da und versuchte mich zu küssen. Ich habe ‚Stopp!‘ gesagt, und er hat aufgehört.“
Privatbeteiligtenvertreterin Elisabeth Bischofreiter will für W. 2.500 Euro für erlittene seelische Schmerzen. Und verweist wie die Staatsanwältin auf das Gutachten, das belege, dass ihre Mandantin den Angeklagten unbekleidet gesehen haben müsse.
Der Senat verurteilt den unbescholtenen S. schließlich nicht rechtskräftig zu zehn Monaten bedingt. „Wir haben es uns nicht leicht gemacht“, begründet der Vorsitzende. „Auch wenn Frau W. dazu neigt, sehr impulsiv zu formulieren – es entstand nicht der Eindruck, dass sie gelogen hat.“ W. bekommt 500 Euro zugesprochen.
Der Cam-Sex der falschen 14-Jährigen
Tobias S. ist „Isabella“ und 14 Jahre alt. Besser, er war es – und das nur im Internet. Genauer, in diversen Erotikforen, in denen er zahlungswilligen Männern versprach, dass sie sein weibliches Alter Ego vor einer Webcam nackt sehen könnten. „Eine absolut blöde Idee“, wie er nun in seinem Betrugsprozess zu Claudia Bandion-Ortner sagt, die dem Schöffensenat vorsitzt.
Im Jahr 2010 war der Deutsche nach Wien gekommen, um zu studieren. Wirklich schlecht ging es ihm finanziell nicht, die Idee für einen illegalen Zusatzverdienst entwickelte sich dennoch. „Wie kommt man darauf?“, fragt ihn Bandion-Ortner. „Ich habe im Fernsehen eine Reportage gesehen, wie leicht Männer glauben, dass sie mit einer Minderjährigen chatten.“ Das wollte er ausprobieren, legte sich seine falsche Identität zu. Und hatte Erfolg: „Sobald ich geschrieben habe, dass ich Cam-Sex-Dienste anbiete, haben mich sofort 500 Leute geaddet“, erinnert sich der Geständige. Später erhöhte er sein „Alter“ auf 18.
Insgesamt 1.350 Euro zum Beispiel überwies ihm ein „Herr Peter“. Der ist eines jener 18 in der Anklage genannten Opfer, die gezahlt haben, bei weiteren drei blieb es beim Versuch. In der Realität muss es viel mehr Interessenten gegeben haben, sagt auch der ermittelnde Polizist als Zeuge aus. „Die Opfersuche war schwierig.“ Es gebe zwar bändeweise Ausdrucke von Mailkonversationen und offensichtlich auch mehr Überweisungen. Die konnten teils aber nicht zugeordnet werden.
Andere schon – doch die Betroffenen, darunter zwei Priester, wollten keine Anzeige erstatten. „Einer der Männer hat gesagt, er sei verheiratet und wolle keine Schwierigkeiten, er habe keinen Schaden erlitten“,