Kunst, Bildung und Bewältigung. Lisa Niederreiter
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Die Frage nach dem »Was vermag Kunst?« auffächernd, nutze ich hier Überlegungen der Kunsttheoretikerin und Künstlerin Marion Strunk, die vorab die grundlegende Problematik eines »Kreativitätsimperativs« an jeden im Sinne permanenter Neuschöpfungen (Strunk, 2018, 60) in der Jetzt-Gesellschaft diagnostiziert und kritisiert. So verlöre Kreativsein das zentrale Merkmal des momenthaft Nicht-Planbaren, des Befreiend-widerständig-Emanzipativen und der Überraschung. Kreativität mutiere zur Norm des neoliberalen Mainstreams und verflache so (vgl., ebd.). Siegmund argumentiert mit Dewey und Joas in dieselbe Richtung:
»Freiheit als Aufforderung, ja als Zwang, kreativ und frei zu handeln, um überhaupt wettbewerbsfähig zu bleiben, bestimmt nach der Darstellung vieler Autorinnen und Autoren den Alltag der meisten Menschen. Damit hat eine eigentümliche Aneignung von Strategien stattgefunden, die ehemals für die Kunst und das künstlerische Handeln reserviert gewesen sind« (Siegmund, 2015, 123).
Ernstgenommenes Schöpferisch-Sein hat mit der Hinterfragung des Gegebenen und Gewohnten – auch in der eigenen Denk- und Verarbeitungsweise – zu tun. Es konfrontiert, und der Ausgang ist jeweils ungewiss. Die daraus resultierende Anstrengung kann nicht als Dauerkompetenz eingefordert werden. Strunk beschreibt dies bezogen auf die Kunst so: »Kunst ist von keinen Allgemeinbegrifflichkeiten einzunehmen. Vielmehr ist von der Wirkung und dem Einfluss von Kunst auszugehen und von ihrer Eigenart, Veränderung als Möglichkeit zu zeigen« (ebd., 61). Das kann sie über verschiedene ästhetische Strategien, und wenn diese gelingen, vermittelt sich das in der Rezeption. Ein Gutteil der Strategien hat mit dem Aufspüren und der mit ungewöhnlichen, so noch nicht gesehenen Mitteln vorgenommenen Sichtbarmachung von Phänomenen der aktuellen Wirklichkeit zu tun. Es ist eine Auseinandersetzung mit Zuständen der Jetztzeit auf der Basis des*der biographisch so gewordenen Kunstschaffenden und seiner*ihrer künstlerischen Strategien. Hier berühren sich das Subjekt und das Kollektiv in seiner*ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Welt. Das bedeutet Arbeit, hohe (Selbst-)Reflexivität, die Entwicklung ästhetischer Differenzen und Verdichtungen, die evtl. erst auf der Grundlage von freischwebender, kritischer, auf den ersten Blick nicht sinngenerierender, zufälliger Prozesse und Haltungen entstehen können, und daher auch diese innovativ in Form gebrachten Lücken/Pausen/Brüche der Wirklichkeit verkörpern, welche aufmerken lassen, irritieren, sinnlich erfahrbar machen und nicht sofort eindeutig antworten oder lesbar sind. Das klingt vielleicht sehr allgemein, nimmt jedoch in der Ergründung künstlerischer Positionen aus ihren Kontexten, Themenstellungen und Traditionslinien der zeitgenössischen Kunst Gestalt an; das sollte auch im Feld der pädagogischen und psychosozialen Vermittlung eine große Rolle spielen.
»Wird Kunst zu einer Intervention, die sich in bloßer Kontemplation oder Information erschöpft, verstärkt das ihr Potenzial, als bedeutsam erkannt zu werden und unmittelbar die gesellschaftlichen Abläufe tangieren zu können. Ihre Disposition ist dabei die der Mehrdeutigkeiten« (ebd., 68).
Das heißt, Kunst ist weder Illustration oder Erklärungshilfe für die von ihr bearbeiteten Fragen, noch bietet sie lineare Antworten oder Lösungen an. Sie führt im idealen Fall zu einem nicht nur kognitiven, sondern auch facettenreichen und empfindenden Verstehensprozess. Ihr ist Paradoxes, Widersprüchliches zu eigen: Kunst zeigt Problematisches auf und nimmt für sich in Anspruch, hier eine Wirkung zu entfalten, ohne real wirksam werden zu können. Strunk umreißt dies als »ein bewusstes Erkennen der Ambivalenz zwischen dem Widerstände-haben und dem Widerstand-leisten« (ebd.), ein nicht aufhebbarer Spannungszustand in den Künsten, der die Debatte mitunter schwierig gestaltet. Karen van den Berg meint, die Kunst sei nicht dazu da, die Welt zu retten (vgl. van den Berg, 2018, 91), doch: »sie ist verschwistert mit dem Möglichkeitssinn und vermag daher bestehende Ordnungen umzudeuten – politische, ethische und meinetwegen auch moralische« (ebd. 86). Anna Kreysing ergänzt die Betrachter*innen-Perspektive mit:
»Freie Reflexionen, zu denen Ästhetische Erfahrungen einladen, führen, wenngleich sie durch ihre Gerichtetheit auf das Kunstwerk nicht als beliebig verstanden werden müssen, nicht zu eindeutigen Ergebnisse. Sie sind ergebnisoffen und haben damit das Potential, das uns im Entwerfen neuer Welten, im Generieren neuer Blicke und dem Verständnis von Möglichem und Wirklichem helfen kann« (Kreysing, 2015, 213).
2.2.1 Gedanken zur »Freiheit« der Kunst
Die oben skizzierten, in ihrer Paradoxie und Unbestimmtheit zu erfassenden »Aufgaben« der Kunst, gekoppelt mit der zunehmenden Verwischung der Künste mit dem Alltag, lädt zum Nachdenken über ihre sog. Autonomie ein:
»Ließe sich künstlerisches Handeln als eine Handlungsoption unter mehreren beschreiben, so könnte man auch der in jüngsten Kunstentwicklungen auftretenden Verwischung der Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst Rechnung tragen. Die Notwendigkeit einer genaueren Bestimmung des Verhältnisses von künstlerischem und nichtkünstlerischem Handeln ist damit aber nicht ausgeräumt, sondern stellt sich lediglich in einer neuen Art und Weise« (Siegmund, 2015, 124).
Darüber wird in Kapitel 8 (
»Das Autonomietheorem – die zentrale Erfindung der bürgerlichen Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts – ist in fast jeder Hinsicht verquer. Erstens speist sich die Kunst (…) aus uralten anthropologischen Antrieben und ist insofern weder autark noch autonom. Zweitens ist die ästhetische Lust nicht etwas, was sich unabhängig von unserer sinnlichen und kognitiven Organisation einstellt« (…). »Und drittens ist die ›Eigengesetzlichkeit‹ der Kunst (…) stets von extra-artistischen – sozialen, politischen, kulturellen – Faktoren abhängig oder mit ihnen aufs deutlichste verflochten« (Welsch, 2018, 132).
Kunst und, davon zu unterscheiden, künstlerische Handlungen finden in unterschiedlichsten Kontexten statt, und die jeweiligen Kontexte sind bei der Analyse von Kunst jeweils mitzudenken. Ohnehin existiert das »System Kunst«, wie es Welsch nennt, erst seit dem 18. Jahrhundert (vgl. ebd., 133). Erst seit dieser Zeit etablierten sich Museen, Galerien, Kunsthandel, Messen, Sammler*innen etc. »Kunst-Kunst« (ebd.) nennt Welsch die sich dort etablierenden künstlerischen Objekte. Daneben platziert er die schon seit alters her oder beispielsweise in den asiatischen Ländern überkommene »Real-Kunst« oder »Lebenswelt-Kunst« als Ausdruck dessen, »unsere Humanität zu entwickeln und zu verfeinern« (ebd.). In diesem Zusammenhang sollte auch die Zuschreibung an den Mythos der bis vor gar nicht langer Zeit ausschließlich männlich gedachten Künstlerpersönlichkeit befragt werden, und das nicht primär aus genderspezifischen Überlegungen. Dieter Mersch spricht hier vom »Prekariat des künstlerischen Genies« (Mersch, 2018, 71), das in Europa mit der Industrialisierung auf die Entstehung der Bohèmen in Abkehr von und Kritik der gesellschaftlichen Entwicklungen zurückgeht: »Es war im eigentlichen Sinne erst die Kunst des Avantgardismus, die vielleicht wie keine andere ästhetische Periode zuvor den Wahnsinn, ja die Ausnahme des Künstlers auf die Spitze getrieben hat, um sie im gleichen Atemzug umzustossen« (ebd., 72). Die geniehaft geheimnisvoll inspirierte Subjektkonstruktion einer singulären Schöpferpersönlichkeit, die nur in ihrer Kunst lebt, wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer weiter hinterfragt und konterkariert. So entstanden beispielsweise mit den expressionistischen Künstler*innengruppen der »Brücke« und des »Blauen Reiter« erste auch programmatisch arbeitende Verbände, in denen ein gemeinsames stilistisches Bildprogramm flankiert von Publikationen zur Innovation der Künste (Almanach des Blauen Reiters) den Geniekult des Einzelnen entmachtete. Auch Dadaisten und Surrealisten arbeiteten zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren künstlerischen Strategien des »ready-mades« (Duchamps’ Flaschentrockner) und diverser Zufallstechniken