Das Weltkapital. Robert Kurz

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Das Weltkapital - Robert Kurz

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Nationalstaat bzw. Nationalökonomie einerseits und Weltsystem andererseits, bei Wallerstein gewissermaßen als ahistorisch erscheinen. Er sagt zwar, dass diese Struktur einer kapitalistischen Weltökonomie im 16. Jahrhundert entstanden ist; aber er entwickelt keine Theorie der qualitativen Dynamik, der qualitativen Entfaltung und vor allem der Krisengeschichte dieses Systems, in der sich die Rolle und das gegenseitige Verhältnis der verschiedenen Bezugsebenen in einem historischen Prozess selber strukturell verändern und den immanenten Widerspruch zur Reife bringen.

      Stattdessen scheinen wir es von Anfang an mit immer derselben, einmal herausgebildeten Struktur eines Weltsystems zu tun zu haben, in der sich bloß die »Ereignisgeschichte« eines Aufstiegs und Abstiegs der einzelnen Kapitalien und politischen »Mächte« abspielt, wobei durchgehend Nationalstaat und Nationalökonomie samt ihren basal eingelagerten und gleichzeitig widersprüchlich abgespaltenen Mikrostrukturen (die reproduktive Funktion des Geschlechterverhältnisses kommt auch bei Wallerstein wie in der gesamten Politökonomie überhaupt nicht vor) lediglich eine Art taktischen Bezugs-rahmen für wechselnde Interessenlagen der Kapitalien bilden sollen, die in letzter Instanz »machtpolitisch« durchgesetzt werden.

      Die Periodisierungen, die Wallerstein dabei vornimmt, bleiben daher ebenfalls äußerlich und phänomenologisch; es geht dann nur um die historischen Verschiebungen zwischen Zentrum, Peripherie und Semiperipherie; ganz ähnlich wie im heutigen Globalisierungsdiskurs um die Umgruppierungen von »Gewinnern« und »Verlierern« vor dem Hintergrund des immergleichen allgemeinen Bezugssystems, nämlich des ewigen Weltmarkts.

      Das System selber scheint keine innere, qualitative Geschichte zu haben, sondern nur eine äußere Geschichte von quantitativen »Wechsellagen« der Interessen und Machtverhältnisse. Diese theoretische Beschränkung ergibt sich aus dem beschränkten Interesse, bei einer erwarteten oder postulierten Neuverteilung der Karten, bei einer Neuformierung und Umgruppierung innerhalb des vorausgesetzten globalen Bezugssystems ein Wörtchen mitzureden, Position zu beziehen, Ratschläge zu erteilen etc.

      Vom Standpunkt einer qualitativen Kritik jedoch wird auch eine qualitative Geschichte auf beiden Ebenen der kapitalistischen »Totalität« und ihrer gegenseitigen Verschränkung sichtbar, die eine andere Periodisierung als die einer bloß äußerlichen Umgruppierung von »Kräfteverhältnissen« erlaubt. Dabei ist historisch gesehen eine dreifache strukturelle Verschiebung im Verhältnis von Weltmarkt und Nationalökonomie zu erkennen.

      Es ist hinsichtlich der Urgeschichte des Weltsystems tatsächlich so, wie Wallerstein mit vielem Material zeigt, nämlich dass man sagen kann: Am Anfang war der Weltmarkt. Denn die Ursprünge der kapitalistischen Produktionsweise reichen ja in das gesellschaftliche Milieu weitgehend feudal organisierter Agrargesellschaften zurück. Deren Organisationsprinzip war jedoch nicht national (territorial), sondern dynastisch bestimmt.

      Es konnte also am Anfang noch gar kein nationalstaatlichnationalökonomisches Bezugssystem existieren. Zwar lässt sich die Geburt des Kapitalismus als identisch mit dem Staatsbildungsprozess der frühen Neuzeit beschreiben, in dem die Entfesselung der Geldwirtschaft aus der Monetarisierung der Abgaben hervorging, die wiederum das staatliche Territorialprinzip (an Stelle bloß persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse) hervorbrachte. Ebenso lässt sich zeigen, wie zusammen mit der Territorialstruktur gleichzeitig auch der Diskurs und das Realverhältnis der modernen geschlechtlichen Abspaltungsstruktur sich allmählich herausbildeten. Aber das Territorium der Besteuerung und der embryonalen neuen Geschlechterverhältnisse unter den absolutistischen Regimes war eben noch kein Nationalstaat mit nationalökonomischer Kohärenz im kapitalistischen Sinne. Der entstehende kapitalistische Markt bewegte sich also quer zu den selber erst entstehenden absolutistischen Territorialstaaten. Und vermittelt durch die koloniale Expansion in Übersee stellte er sich von vornherein als Weltmarkt dar.

      In Gestalt des frühen Weltmarkts im Kontext des Kolonialsystems war das Kapital wirklich der »fremde Gott« (Marx), der über die Gesellschaften hereinbrach, während gleichzeitig sich komplementär in diesen Gesellschaften selbst zentralistische Territorialstaatlichkeit, moderne geschlechtliche Abspaltungsstruktur und entsprechende Ideologien (Protestantismus) entwickelten; wobei im Sinne einer Ausrichtung der Individuen und einer auch kulturell-symbolischen Fundierung des fetischistischen neuen Gesamtverhältnisses die geschlechtliche Abspaltung eine keineswegs zufällig aus den späteren Reflexionen ausgeblendete Tiefendimension markiert.

      Erst auf diese Weise wurden überhaupt die begrenzten lokalen Märkte ohne Konkurrenzprinzip, die in der Agrargesellschaft eine bloße Nischenfunktion (für Überschüsse und Spezialprodukte) hatten, durch anonyme großräumige und sogar transkontinentale Märkte mit blinden Konkurrenzverhältnissen ersetzt. Es fand also nicht ein allmählicher und geradliniger Aufstieg von lokalen und regionalen Märkten zu nationalökonomischen Binnenmärkten und erst von da aus zum Weltmarkt statt, sondern genau umgekehrt brach unmittelbar der Weltmarkt katastrophisch über die agrargesellschaftlichen Strukturen und deren begrenzte Märkte herein, um dann als Folge (statt Ursache) dieser Entwicklung gewissermaßen von oben die Bildung nationalökonomischer und damit nationalstaatlicher Strukturen zu erzwingen, die überhaupt erst eine weitere, daran anschließende Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise auf ihren eigenen Grundlagen ermöglichten.

      Zwar im Kontext dieses Prozesses und mit diesem vermittelt, jedoch ohne darunter subsumiert werden zu können, bildete sich »gleichursprünglich« (Roswitha Scholz) das moderne Geschlechterverhältnis aus, als Abspaltung von der strukturell männlichen Subjektivität der Protoformen »abstrakter Arbeit« und Verwertungslogik. Dieses Verhältnis befindet sich einerseits auf derselben Totalitätsebene wie das »Kapital im Allgemeinen«, dessen Bestandteil es dennoch nicht sein kann; ebenso wenig das »ganz Andere« oder gar Transzendierende; es handelt sich vielmehr um das negativ vermittelte Moment, wie im Kapitalismus das in ihm nicht aufgehende Soziale und Reproduktive dennoch »bearbeitet« wird. Andererseits erscheint dieses Abspaltungsverhältnis ebenfalls in den nationalen Rahmen eingebannt; es schmiegt sich diesem gewissermaßen vielfältig an, ohne eine bloß abgeleitete Funktion desselben zu sein. Die Abspaltungsstruktur befindet sich also auf derselben abstrakten Totalitätsebene wie das »Kapital im Allgemeinen«; sie hat jedoch als konkreten Rahmen im Unterschied zu diesem nicht die beiden Ebenen von Nationalökonomie und Weltmarkt, sondern ihr gesamtgesellschaftlicher Bezugsrahmen kann nur die bürgerliche Nation sein.

       Weltmarkt und innerer Selbstwiderspruch des Kapitalismus

      Der Weltmarkt blieb bei der Herausbildung der Nationalökonomien zwar die Sphäre, die Wallerstein als diejenige bezeichnet hat, auf die das Kapital seiner Tendenz nach ausgerichtet sei; eine Auffassung, die Marx schon lange vorher als der Logik des Kapitals entsprechend und als eine unveräußerliche Bedingung seiner Existenz dargestellt hatte:

      »Eine Bedingung der auf dem Kapital basierten Produktion ist ... die Produktion eines stets erweiterten Zirkels der Zirkulation ... Die Tendenz den Weltmarkt zu schaffen ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke. Zunächst jedes Moment der Produktion selbst dem Austausch zu unterwerfen und das Produzieren von unmittelbaren, nicht in den Austausch eingehenden Gebrauchswerten aufzuheben, d.h. eben auf dem Kapital basierte Produktion an die Stelle früherer, von seinem Standpunkt aus naturwüchsiger Produktionsweisen zu setzen. Der Handel erscheint hier nicht mehr als zwischen den selbständigen Produktionen zum Austausch ihres Überflusses vorgehende Funktion, sondern als wesentlich allumfassende Voraussetzung und Moment der Produktion selbst...« (Marx 1974/1857-1858, 311).

      Aber mit der Herausbildung von nationalökonomischen Bezugssystemen hatte sich eine neue, andere Form gewissermaßen vor »die Tendenz den Weltmarkt zu schaffen« geschoben. Diese Doppelstruktur von Weltmarkt einerseits und Nationalökonomie/Nationalstaat samt entsprechender Abspaltungsstruktur andererseits kam erst im 19. Jahrhundert zu ihrer vollen Entfaltung. Blieb der Weltmarkt Voraussetzung des Kapitals, so trat er nun dennoch (im Unterschied zu den Anfängen) erst als sekundäre Sphäre

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