Blues. Carl-Ludwig Reichert
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Das fing laut Davis schon mit Mamie Smiths »Crazy Blues« an, der 1920 erschien und häufig als erster Blues auf Platte apostrophiert wird. Davis widerspricht dem zumindest formal, indem er anmerkt: »Genauer betrachtet, ist ›Crazy Blues‹ eine Synthese aus Blues und schwarzem Vaudeville ... Die Trickserei bestand darin, den Plattenkäufern zuerst die Synthese anzubieten: Countryblues-Sänger wurden in größerer Anzahl erst sechs oder sieben Jahre später aufgenommen und Charley Patton – der als der prototypische Bluesmann gilt – musste bis 1929 warten.«
Patton hatte zudem, wie auch Ma Rainey und viele andere, das Pech, von Paramount aufgenommen zu werden, einer Firma, die für ihre miese Aufnahmetechnik berüchtigt war, was zur Folge hat, dass ihre Aufnahmen heutzutage echt antiquiert klingen, wohingegen »Robert Johnson und Bessie Smith, die elektrische Aufnahmen für die Firma, die später Columbia werden sollte, machten, immer noch so gut klingen, als befänden sie sich mit uns im gleichen Raum.«
Die Aufnahmepolitik der Firmen hatte noch eine weitere, wenig bekannte Folge: Der Blues wurde im Gegensatz etwa zu den kollektiven Gospelgesängen als One-Man- oder One-Woman-Angelegenheit definiert. Dabei gab es sowohl Gitarrenevangelisten wie Blind Joe Taggart, Washington Phillips oder Blind Willie Johnson als auch Bluescombos wie die allseits beliebten String- und Jugbands, in denen viele Musiker spielten, die auch als Einzelinterpreten bekannt waren. Erste Aufnahmen von Jugbands gab es auch schon ab 1924 mit Bands aus Louisville, Kentucky. Dort war diese Musik, die eine Zwischenstufe von Jazz zu Blues darstellte, als Unterhaltung bei Pferderennen erfunden worden.
An fast allen frühen Jugbands war übrigens der umtriebige Geiger Clifford Hayes beteiligt. Das angebliche Blueskernland Mississippi hinkte auch hier nach. Die berühmte Memphis Jug Band war mit Aufnahmen erst 1927 dran, 1928 folgten Gus Cannon's Jug Stompers und erst 1930 die Mississippi Sheiks.
Solchermaßen setzte sich das Image vom heulenden Einzelwolf mit Gitarrenbegleitung seit den Zwanziger Jahren fest. Höchstens dem blinden Bluesbarden wollte man noch einen koffertragenden Lehrling auf staubigen Straßen zugestehen, der eventuell ein zweites Instrument spielte. Doch es gibt glaubwürdige Aussagen, etwa von Son House, dass er, Charley Patton und Willie Brown häufig zusammen auftraten.
Auch geographische Gegebenheiten spielten damals eine Rolle. Die Bahnverbindungen zwischen Chicago, dem Delta und Memphis waren günstiger als nach dem konkurrierenden New York oder in das weit entfernte Texas. »Das änderte sich auch nicht nach dem Erfolg des texanischen Sängers und Gitarristen Blind Lemon Jefferson mit ›That Black Snake Moan‹ von 1926. ... Egal, wie sie sich selbst einschätzten, in den Augen der Plattenfirmen waren die Bluesmänner Folksänger und keine professionellen Unterhalter. Ganz ähnlich wie bei den Feldarbeitern, die ihre Platten kauften, nahm man von Bluessängern an, es gäbe von ihnen einen unerschöpflichen Vorrat, sie seien beliebig austauschbar und gewillt, billig zu arbeiten. Sie waren praktisch die Hilfsarbeiterreserve der Musikindustrie.«
Die meisten von ihnen hatten angeblich nur ein begrenztes Repertoire von kaum mehr als einem Dutzend Stücke. Frank Walker, der Mann, der Bessie Smith entdeckt hatte, war jedenfalls dieser Ansicht: »Wenn du also die drei oder vier besten Songs aus dem sogenannten ›Repertoire‹ aufgenommen hattest, warst du mit dem Mann künstlerisch fertig. Du warst durch ... auf Wiedersehen. Und sie fuhren wieder heim.«
Jeder, der selbst einmal als Straßenmusiker oder in einer Band gearbeitet hat, weiß, dass mit einem so begrenzten Angebot an Material kein Durchkommen ist. Auch hier liegt noch ein relativ dicker Hund begraben, nämlich das Konzept des Hundertfünfzigprozent-Bluessängers, der seiner Lebtage nichts anderes hat und singt als den guten alten Blues. In Wirklichkeit dürfte das eine sehr späte Entwicklung gewesen sein.
Die frühen Interpreten waren vielmehr Songster: Sie sangen, was ihnen gefiel und was die Leute wollten. Und möglicherweise wollten die Leute gar nicht immer Blues. Das Repertoire der weißen und schwarzen Stringbands, das sich übrigens ebenfalls häufig überschnitt und gegenseitig beeinflusste, unterstützt diese Vermutung. Es bestand aus weißen Folksongs, schwarzen Folksongs, Bluesnummern, Tagesschlagern, Instrumentals wie den beliebten Breakdowns, Bawdy-Songs und Hokum, also schlüpfriger weißer und gepfefferter schwarzer Erotik, usw. Gut möglich, dass ein versierter Songster nur ein Dutzend Bluestitel auf Lager hatte. Vielleicht wäre er aber auch in der Lage gewesen, auf Anfrage mehr zu spielen. Und in jedem Fall umfasste sein Gesamtrepertoire viel mehr Lieder.
Lead Belly, mit seinem Riesenrepertoire von angeblich fünfhundert Songs, darunter auch Cowboylieder wie »When it's Springtime in the Rockies« – nachzuhören etwa auf Cowboy Songs on Folkways (1991) – war ebenso entschieden ein Songster wie Mississippi John Hurt, Hambone Willie Newbern, Jim Jackson, Frank Stokes aus Memphis, die Texaner Henry Thomas und Mance Lipscomb, der reisende Ragtime-Wizard Blind Blake aus Georgia oder der früh aufgenommene Papa Charlie Jackson.
Trotz aller Rassengesetze und aller Segregation scheinen zumindest die Lieder zwischen den Musikern, die kaum je Rassisten gewesen sein dürften, gewandert und getauscht worden zu sein. Davis kommt zu dem Schluss: »Das unterstreicht die frühere Behauptung, das Repertoire des typischen schwarzen Country-Songsters der Zwanziger Jahre sei mehr oder weniger identisch gewesen mit dem der weißen ländlichen Musiker der Zeit.« Als weiteren Beweis führt Davis Leslie Riddle an, einen typischen schwarzen Songster aus North Carolina, der der berühmten Carter Family viele Songs lieferte, aber kaum einem Blues- oder Countryfan bekannt sein dürfte. In den Städten, in den Barrelhouses oder bei privaten Rent-Parties wird wohl auch gemischte Kost geboten worden sein – eine Vermutung, die aber noch der Bestätigung bedarf.
Festzuhalten bleibt, dass die Geschichte des Blues anhand seiner Aufnahmen allein auch nicht exakt beschreibbar sein wird. Es bedarf wohl noch vieler interdisziplinärer Forschungen, bis die Entwicklung des frühen ländlichen Blues in einer Gesamtschau darstellbar sein wird. Für den frühen städtischen Blues sieht es etwas besser aus. Denn hier gibt es zusätzliche Quellen, mehr Fotografien, sogar filmisches Material – man denke nur an St. Louis Blues mit Bessie Smith von 1929, jetzt wieder zu sehen auf Hollywood Rhythm Vol. I, oder The Jailhouse Blues aus demselben Jahr. Bluesgeschichte ist also zuletzt auch noch Mediengeschichte – der Bücher, die über den Blues geschrieben wurden, der Fotografien und Filme, die ihn dokumentieren und auch die seiner Rezeption durch Kritiker und Fans.
Kapitel 2: Frühe Dokumente
Es wird alle Leserinnen, Feministinnen oder nicht, erfreuen, dass der allgemein als erste Bluesaufnahme anerkannte »Crazy Blues« im Jahr 1920, als die Frauen in den USA das Stimmrecht erhielten, von einer Frau, Mamie Smith (1890 – 1946), gesungen wurde. Mamie Gardener Smith war bereits im Januar des Jahres für das Label RCA Victor im Studio gewesen, ihre Aufnahme der Ballade »That Thing Called Love« wurde aber nicht veröffentlicht. Ihr Agent Perry Bradford verschaffte ihr im Februar einen neuen Termin im Studio von Okeh Records, die General Phonograph gehörten. Die gleiche Ballade und »You Can't Keep a Good Man Down« wurden im Sommer ohne große Werbung, aber mit Unterstützung der schwarzen Presse herausgebracht. Die Platte wurde sofort ein Riesenhit unter der schwarzen Bevölkerung, die buchstäblich die Läden leerkaufte. Angeblich sollen hunderttausend Exemplare abgesetzt worden sein. Okeh war auf eine Goldmine gestoßen.
Am 10. August 1920 nahm Okeh Records dann »Crazy Blues« auf. Das Studio-Orchester unter der Leitung von Perry Bradford wurde in Mamie Smith's Jazz Hounds umbenannt und auf dem Notenheft abgebildet.