Verlorene Zeiten?. Группа авторов

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mehr in den Hintergrund. Die Überzeugungskraft der Theorie besetzte einen höheren Platz. Das ist der Gang der Dinge.

      Sie meinen, mit der Zeit stieg der intellektuelle Anspruch?

      Ja, aber ich habe Schwierigkeiten, mich an den Übergang zum Marxismus-Leninismus zu erinnern. Das geschah wohl erst an der Universität, die ich 1948 bezog. Vorher haben wir diese broschürten Ausgaben von Marx-Engels-Schriften gelesen, die der Dietz- Verlag herausgab: ,Lohn, Preis und Profit‘, Lohnarbeit und Kapital‘, vielleicht auch schon die ,Deutschen Zustände‘ von Engels. Ich meine, dass ich während meiner Schuljahre von Stalin nur den Sammelband mit seinen Reden ,Über den Großen Vaterländischen Krieg‘ las. 6 An der Universität studierten wir dann im Parteilehrjahr den ,Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)‘, 7 der war gerade in der deutschen Übersetzung erschienen.

      Was hat Sie an einem Text wie dem ,Kurzen Lehrgang‘, mit seiner Rhetorik der Gewalt, der Einfachheit und Schlichtheit der Gedanken beeindruckt?

      Diese Frage bringt mich absolut in Verlegenheit. Weil es mir schwer fällt, mich in meine damalige gedankliche wie emotionale Situation zurückzuversetzen. Das alles Überwölbende war für uns damals die Rolle der Sowjetunion und ihrer Armee im Krieg. Ihr Sieg bildete die Vorraussetzung, bei allen auch persönlichen Verlusten – wie den der schlesischen Heimat –, für einen Neubeginn des eigenen Lebens. Und zwar für einen Neubeginn, zu dem man ,Ja!‘ sagen konnte. Das ergab die Grundstimmung. Wie es um die Urteilskraft stand, das habe ich mich wieder gefragt, als mir vor drei oder vier Jahren in einem Bücherregal in unserem Garten zufällig diese kurze Stalin-Biografie in die Hände fiel. Wie man das über die erste Seite hinaus lesen konnte! Ist mir absolut schleierhaft! Eine dermaßen märchenhafte, im Stil unsägliche Darstellung. Und dann waren und blieben wir in meinen Studienjahren schlicht ahnungslos, was den aktuellen Zustand der Sowjetunion und ihre Geschichte anging. Unsere Verehrung Stalins rührte aus einer falschen Vorstellung von seinen Verdiensten als oberster Feldherr. Was die Geschichte der KPdSU anlangte, zumindest wie sie im ,Kurzen Lehrgang‘ beschrieben wurde, so ist vielleicht das Nachteiligste, was man davon aufnahm, die absolut dogmatisierte, verfälschte Darstellung der inneren Auseinandersetzungen in der Sowjetunion.

      Welche ,Auseinandersetzungen‘ in der Sowjetunion meinen Sie?

      Die Auseinandersetzungen der 1920er Jahre. Wer da alles um des richtigen Weges willen gesäubert werden musste, wer da überwunden werden musste! Diese These, die Partei wachse durch harte innere Kämpfe, diese würden geradezu eine Gesetzmäßigkeit ihrer Höherentwicklung bilden usw. Ich glaube, das hat verheerend gewirkt. Ein kritisches Verhältnis zur sowjetischen Geschichte, ganz zu schweigen vom stalinistischen Terror in der Partei und Gesellschaft, war so nicht zu gewinnen. Warum aber haben wir zu dieser Darstellung der innerparteilichen Kämpfe, nicht nur denen in der KPdSU, nicht wenigstens ein misstrauisches Verhältnis gewonnen? Manche von diesen Kämpfen besaßen ja eine erkennbare Substanz. Sie waren ebenso notwendig wie die Auseinandersetzungen zwischen Revisionismus und Revolutionarismus. 8 Wie sie jeweils geführt wurden und ausgingen, das war eine zweite Frage. Heute gruselt es mich, denke ich an Auffassungen, die ich damals vertreten habe. Allerdings ließen sich manche der seinerzeit bezogenen Standpunkte vollständig erst erklären, nicht rechtfertigen, wenn nicht außer Acht gelassen wird, dass wir in der ganzen großen Auseinandersetzung zwischen Ost und West ja stets die Schwächeren waren.

      „Wir wollten die bürgerlichen Professoren mitnehmen …“

      Warum haben Sie sich für ein Geschichtsstudium entschieden?

      Ich wollte Lehrer werden, Deutsch und Geschichte. Eine Vorstellung davon, was mir im Einzelnen da an Ausbildung bevorstehen werde, besaß ich nicht. Wie ich darauf verfiel? Ich habe sicher den mehr sagen- und märchenhaften Geschichtsdarbietungen in der Schule gerne zugehört. Doch zunächst waren Geschichtsbücher nicht meine bevorzugte Kindheitsund Jugendlektüre, die bildeten Bücher über geografische Entdeckungen, Abenteuer von Seefahrern und ähnliche. Auf irgendeine Weise hat die Herausforderung des Umbruchs nach 1945 mein Interesse für Geschichte geweckt und entscheidend zu meinem Studien- und Berufswunsch beigetragen.

      Sie sind sehr jung Parteisekretär der Universität Jena geworden, nämlich mit 19 Jahren.

      Ja, das war ein Abenteuer. Naja, meine Genossen an vergleichbaren Plätzen waren auch nicht viel älter als ich. Ach, großer Gott, ich kam an die Universität, wurde Leiter einer Zehnergruppe von SED-Studenten im ersten Studienjahr, hatte vorneweg drei Wochen SED-Lehrgang. So ging das auf einer Tippel-Tappel-Tour zu mehr Verantwortung und Arbeit. Da wurde eine oder einer gebraucht, von dem man meinte, der könnte den Versuch mittragen, geistigen Einfluss auf die Mehrheit der Studenten zu gewinnen, der wir damals nicht viel zu sagen hatten.

      Die ideologischen Grabenkämpfe an der Jenaer Universität haben sich damals vor allem um den Historiker Karl Griewank gedreht, der sich schließlich das Leben genommen hat.

      Kurz bevor ich nach Jena kam, gab es die Auseinandersetzung mit dem Philosophieprofessor Leisegang, 9 der daraufhin rausgeschmissen wurde. Das war aber ein Sonderfall. Wir ,Neuen‘ haben die bürgerlichen Professoren wegen ihres Wissens bewundert und auch verehrt. Ich sagte mir ohnehin: „Das geistige Niveau, das diese Wissenschaftler besitzen, wirst du sowieso nie erreichen – dazu hast du zu spät angefangen.“ Die haben als Kinder schon Sprachen gelernt, sind in bürgerlichen Haushalten zwischen Büchern aufgewachsen. Aber gleichzeitig ließ man sich mit denen auf ein intellektuelles Kräftemessen ein.

      Und nun zu Griewank. Es existieren zwei Quellen, die radikale Positionen bezeugen und über eine streitbare Diskussion hinausgehen: Ein Historikerstudent hat auf einer Parteisitzung gesagt: „Griewank muss weg!“ Und ähnlich lautete eine Äußerung des Universitätsrektors. Beides steht aber nicht für die vorherrschende Meinung. Denn schon auf pragmatischer Ebene war zu fragen: Wer soll denn dann den ,Laden‘ weiterführen? Hochschullehrer, wie beispielsweise der Historiker Hugo Preller, 10 bewegten sich in einer anderen Klasse und einem niedrigeren inhaltlichen Angebot.

      Worum ging es Ihrer Ansicht nach bei diesen Auseinandersetzungen?

      Es ging letzten Endes um unseren totalen Anspruch: Geschichtswissenschaft beginnt mit dem Historischen Materialismus, mit der Wertung der großen Kämpfe der Vergangenheit als Klassenkämpfe. Heute diskutieren wir: Was fehlt im Marxismus? Was bedarf der Ergänzung oder der Korrektur? Derlei Fragen waren uns damals fremd. Und: Wir wollten die bürgerlichen Professoren mitnehmen nach dem Motto: Wenn die Arbeiter den Sozialismus begreifen können, müssten ja diese klugen Leute ihn auch begreifen können und von ihm zu überzeugen sein. Griewank wehrte sich gegen unseren Absolutheitsanspruch aus seiner religiösen Überzeugung heraus und auch mit stichhaltigen Argumenten. Doch er stellte sich der Diskussion mit Leuten, deren Art und Weise, sich in ihre Studien zu stürzen, er auch schätzte. Er wie andere bürgerliche Lehrer – so fern wir ihren und sie unseren Lebenserfahrungen waren – blieben nicht unbeeindruckt von der Intensität und Ernsthaftigkeit von uns ,Neuen‘. Selbst wenn unsere Attacken ungerecht waren und Griewank sie so empfinden musste, hat er sie nie vergolten.

      Wie haben Sie auf die Nachricht von Griewanks Selbstmord reagiert, der ja von manchen durchaus mit dem politischen Druck der SED und einiger Studenten in Verbindung gebracht wurde? 11

      Ich entsinne mich, wann ich die Nachricht erhielt, Griewank habe sich das Leben genommen. Sofort begann das Rätselraten über die Ursachen seiner Tat. Den Gerüchten, die Sie meinen, trat auch seine Familie entgegen, die sich gegen die Politisierung seines Todes wehrte. Ich erinnere mich keiner Auseinandersetzung mit einem der Professoren während der fünfziger Jahre, die mit einer Vertreibungsabsicht erfolgt wäre. Auch wenn der gute Vorsatz und seine Ausführung mitunter auseinander fielen: Ziel und Stil unseres Auftretens waren darauf gerichtet, Menschen zu gewinnen, ob sie Studenten oder Professoren waren!

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