Reformierte Theologie weltweit. Группа авторов
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Oepke Noordmans stammt aus einem reformierten Milieu in Friesland, Nord-Niederlande, und wurde später ein Repräsentant dessen, was |54| man in den Niederlanden als «Ethische Theologie» bezeichnete, eine moderne Variante der reformierten Theologie (deren Begründer im 19. Jahrhundert Daniel Chantepie de la Saussaye und Johannes Hermanus Gunning waren).16 Diese theologische Richtung war mit der deutschen Vermittlungstheologie verwandt (allerdings stärker orthodox geprägt) und suchte eine Synthese von Kultur und Christentum, ausgehend von der Inkarnation, dem Grundgedanken, dass in Jesus Christus das Wort wirklich Fleisch, also Kultur und Geschichte, geworden ist. Die Ethische Theologie stellte sich damit gegen den Intellektualismus des neocalvinistischen Offenbarungsglaubens von Abraham Kuyper und den liberalen Subjektivismus der sogenannten «vrijzinnigen» (Karel Hendrik Roessingh u. a.). Das typisch Reformierte sahen die Ethischen Theologen in der Erkenntnislehre, in der Betonung des Persönlichen im Erkennen der biblischen Wahrheit. Diese personalistische Erkenntnislehre hat ihren Ausgangspunkt nicht in einem Prinzip oder einem abstrakten Begriff, sondern im persönlichen Wort, das in Jesus gehört wird und nach Antwort verlangt. Die Ethische Theologie legte Nachdruck auf die Bildung des Menschen zu einer «religiösen Persönlichkeit» als Zugangsweg zu Gott. Anders als die verwandte Strömung des Neocalvinismus war die Ethische Theologie weniger scholastisch und suchte stärker danach, in welcher Weise biblische Wahrheit das Leben in Bewegung bringt.
In der Entwicklung von Noordmans᾿ Theologie spiegelt sich sein Verständnis der Zeit, in der er lebt. Die tiefgreifenden Ereignisse in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts wie die Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg und die russischen Revolution, die Arbeitslosigkeit und die prekären sozialen Umstände der Arbeiter in Europa, das alles brachte Noordmans dazu, seine ethisch-theologische Position neu zu durchdenken. Er erkannte, dass eine bedrohte Humanität einer adäquateren theologischen Durchdringung bedarf, als dies die Ethische Theologie mit ihrem Interesse für die religiöse Persönlichkeit leisten konnte. Aus eigener Kraft machte er eine Wendung in seinem Denken durch, die man mit der Wendung in der Dialektischen Theologie hin zu einem offenbarungstheologischen Ansatz vergleichen kann. Anfang der 1920er Jahre erschienen Artikel Noordmans᾿, in denen diese Wendung deutlich artikuliert |55| ist. Noordmans problematisiert darin das ethische Persönlichkeitsdenken und sagt, dass wir nur dann, wenn wir im Glauben die Sichtweise Gottes mitvollziehen – exzentrisch –, zu sehen bekommen, wer wir als menschliche Personen sind.17 Das Leben zwischen Geburt und Tod lässt sich nicht von innen heraus verstehen.
Noordmans war ein visionärer Geist, der vorhersah, dass das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert mit grundsätzlichen Veränderungen auf vielen Gebieten der Gesellschaft werden würde – nicht nur im Bereich von Religion, Kunst und Organisation, sondern auch auf dem Gebiet der Wissenschaft und ihrer Anwendungen. Er hatte ein Auge für die destruktiven Seiten der neuen Technologien, wenn diese im Kriegsbetrieb angewendet und so als Instrument gewalttätigen Machtswillens missbraucht werden. Man muss Noordmans᾿ Theologie, wie auch die von Karl Barth, als eine Reaktion auf eine Periode der Krise verstehen. Wie Barth sah Noordmans sich dazu gedrängt, eine Theologie zu entwickeln, die einer Theologie widerstand, die mit dem Zeitgeist antidemokratischen Denkens und nationalistischer Ideologie ging. In «Neuschöpfung», seinem dogmatischen Hauptwerk aus den 1930er Jahren,18 aber ebenso in Artikeln machte er seine Sichtweise deutlich. Und wie bei Barth spielt auch bei ihm die Eschatologie eine Schlüsselrolle.19 Noordmans᾿ Theologie ist zukunftsorientiert.
Die eschatologische Ausrichtung ist nicht im Sinne einer Flucht aus der Gegenwart zu verstehen, vielmehr geht es darum, die menschlichen Möglichkeiten aufzudecken, die sich gerade in Krisenzeiten offenbaren. Glaube und Theologie bekommen in Noordmans᾿ Werk eine grosse Verantwortung, wenn es um die Reflexion von Ethik und Wissenschaft geht. |56| Ein Barthianer ist Noordmans nicht geworden, dafür war sein Denken im Zeitpunkt, wo er Barth kennenlernte, bereits zu sehr ausgereift. Auch war das Prinzip der Ethischen Theologie, dass man jeden Tag eine bestimmte Empfänglichkeit für die göttliche Wahrheit erleben kann, für ihn unaufgebbar. Es gibt in Noordmans᾿ Denken eine Verbindung zwischen Wort und Person, die in seinen Artikeln nach 1935 zu immer kritischeren Fragen an Barths Theologie des Wortes führte.20 Das Wort Gottes ist vom menschlichen Leben und menschlicher Erfahrung zu unterscheiden, darin stimmt Noordmans mit Barth überein, aber dieses Wort wird wirksam in der Existenz des Christen. Der Fokus liegt bei Noordmans auf dem pneumatologischen Ansatz und damit der Wirkung des Wortes. Trotz aller Verwandtschaft muss gesagt werden, dass Noordmans aufgrund seines reformiert-pneumatologischen Anliegens lebenslang sowohl der Dialektischen Theologie als auch dem Neocalvinismus von Abraham Kuyper gegenüber kritisch blieb.
4. Noordmans’ reformiertes Profil
Was fällt auf, wenn man Noordmans anhand der fünf Punkte der reformierten Geisteshaltung von Gerrish in den Blick nimmt? Was fällt als das unterscheidend Reformierte auf?
4.1 Ehrfurcht vor der Vergangenheit: hörendes Denken
Achtung vor der Vergangenheit ist für Noordmans’ Denken von zentraler Bedeutung. Man kann bei ihm von einem hörenden Denken sprechen. Dies hat für ihn mit «Autorität» zu tun, aber nicht mit einer Autorität im Sinne von Zwang. Vielmehr geht es darum, eine Haltung des Zuhörens einzunehmen und so intellektuelle Bescheidenheit zu zeigen. Ich möchte diesen Punkt anhand eines Artikels aus dem Jahre 1921 näher erläutern, denn dieses Jahr wird meistens als das angesehen, in dem Noordmans eine Wendung von einer ethisch-theologischen hin zu einer stärker offenbarungstheologischen Position durchlaufen hat. Aus diesem Jahr stammen einige Aufsätze, die tatsächlich seinen theologischen Ansatz der folgenden Jahre ankündigen. Einer dieser Aufsätze trägt den Titel «Glauben auf Autorität hin». Dieser Aufsatz ist ein Plädoyer für ein Autoritätselement |57| in der Erkenntnislehre und kritisiert den Hang zu intellektueller Autonomie sowohl in der Theologie als auch in der Kultur. «Glauben auf Autorität hin» bedeutet, aus einem Hören heraus zu glauben, durch welches ein Mensch in seiner ganzen Existenz betroffen wird. Hören gelingt so, dass man seine Aufmerksamkeit zu den Stimmen der Heiligen Schrift und der Kirchengeschichte ziehen lässt, aber auch zu den Stimmen derer, die noch kein Gehör in dieser Welt gefunden haben. Es geschieht etwas, wenn sich das Denken in den Dienst dieses Hörens begibt; das Denken und damit die Geisteshaltung werden bescheiden. Am hörenden Denken sind dabei zwei Seiten zu unterscheiden, eine anthropologische und eine theologische. Das Anthropologische zielt auf etwas, das nach Noordmans für das Menschsein wesentlich ist. Es ist die Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Stimme, für das, was Noordmans als «das zum Klang geworden Innerliche des Menschen» beschreibt. Und er schreibt weiter: «Verkennung des Wortes, in jeder Form, schädigt die Heiligung des innerlichen Menschen» (VW 2, 142). Die theologische Denkhaltung, die dieses Hören achtet, basiert nicht auf einem wissenschaftlichen Drang, selbst etwas zu finden, oder auf unbeugsamen Prinzipien, sondern sie richtet sich nach der «Grammatik des Glaubens» (dem «Wortzusammenhang» der Evangeliumsverkündigung, wie Noordmans in «Neuschöpfung»