Die sieben Todsünden. Corey Taylor
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Aber trotz alledem bleibe ich dabei, dass Zorn keine Sünde ist. Wut und Zorn können einen Nutzen haben, wenn sie in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Viele der bedeutendsten künstlerischen Errungenschaften wirken wütend, erschütternd und zerrissen. Mäßigung ist hier das Schlüsselwort – versuche dich zu mäßigen. Aus einem offensichtlichen Grund kann nicht der „Sünde“ die Schuld zugeschoben werden. Wenn einer beschuldigt wird, müssen auch alle anderen beschuldigt werden. Die Leute, die einfach zusahen und nicht handelten, sind schuldig. Die, die lachten und das lustig fanden, sind schuldig. Die, die still litten, statt etwas zu sagen, sind schuldig. Stell dir einen Stammbaum vor, in dem nur die Namen der Leute stehen, die an dem Abend dabei waren – dann wird klar, was ich meine.
Zorn hat aber auch eine Kehrseite, da wir in so einer Lage oft merkwürdige Dinge veranstalten. Warst du jemals so sauer, dass du nichts mehr sagen konntest? So sauer, dass aus deinem Mund der größte Scheiß kam, der der Menschheit je in die Ohrmuscheln gedrückt wurde? Diese Dummheit kann genau so ansteckend sein wie die Wut selbst. Versuch mal mit einem anderen zu reden, wenn dich alles ankotzt – die Worte sprudeln nur so hervor, alles wird lauter und lauter bis zu dem Punkt der einsilbigen Stammeleien, die wie ein luftloses Bellen klingen. Das klingt wie ein Auktionator mit Tourette-Syndrom.
Auf einen außenstehenden Beobachter können die offensichtlichen Anzeichen eines Wutanfalls sehr komisch wirken. Er sieht ein rotes Gesicht, dessen Farbe in Purpurrot umschlägt. Es mag sein, dass der Wütende zu lächeln oder zu lachen beginnt und dabei den Kopf schüttelt. Die Lippen pressen sich zusammen und die Augen verschleiern sich, während der Kampfgeist eines Clint Eastwood oder Steven Seagal in ihn fährt. Beobachte die Hände – je nach Mentalität beginnen sie entweder zu schwitzen oder sie verkrampfen sich. Wenn die Kinnlade nicht wie von einem Schock der Fassungslosigkeit runterklappt, mahlen die Zähne aufeinander. Das zu beobachten wirkt auf mich verflucht komisch, und ich ertappe mich oft beim Kichern, während sich andere Leute vor Zorn aufplustern. Das wiederum verschärft die Situation noch weiter, aber ich kann nichts dagegen machen. Es beeindruckt mich immer aufs Neue. Aber wenn ich das Ziel der Wut bin, raste ich aus und kann mich nicht mehr kontrollieren. Dann ist es das Beste, einfach zu verschwinden.
Sünden sind Schmutzflecken des spirituellen Lebenslaufs. Warum soll uns also ein Gefühl, das schon fast zum Alltag gehört, angekreidet werden? Ah, ich verstehe – der Zorn bringt uns auf einen verwirrenden Weg, auf dem wir Taten vollbringen, die unsere Reinheit beflecken. Aber angepisst zu sein, sollte nicht mit der Aussicht verknüpft sein, in der Hölle zu schmoren. Auszurasten ist die Reaktion auf einen Moment im Leben, der sich deiner Kontrolle entzieht. So ein Gefühl zählt zu den menschlichsten Empfindungen. Und warum, bitte, soll das eine Sünde sein?
Ich möchte euch mal eine Sünde aufzeigen, vielleicht eher eine traurige Tatsache, etwas wofür man sich schämt. Ungefähr zu Beginn der Neunziger war es im Heavy Metal angesagt zu schreien. Ich fand das nicht schlecht, gehörte ich doch zu den Vorläufern dieser ganzen Bewegung und schrie mir jeden Abend mein kleines, dunkles Herz aus dem Hals. Aber dann entwickelte sich was wirklich Beschissenes daraus. Die Leute hielten die Schreierei für ein ehrliches Gefühl, die Wut wurde zum Synonym aller Gefühle. Um leidenschaftlich zu erscheinen, musste man also nur in einer Metal-Band spielen – „Oh, er hat ja so viel Feeling.“ Ihr verfluchten Judas Priest, wollt ihr mich verarschen? Jeden Abend stellen sich Jazz-Sänger auf die Bühne und offenbaren uns ihre ganze Seele, und keinen interessiert das. Fuckbucket, der Lead-Sänger der Band Fill (deren Logo der Musik ähnelt – verworren, unlogisch, abgedroschen), bölkt das gesangliche Äquivalent von Kotze in ein SM57-Mikrofon, schmeißt noch eine gehörige Portion „Dad“ und „Fuck“ da rein und die Leute feiern ihn als den nächsten Jim Morrison.
Hier zeigt sich folglich keine reale Emotion, die wirklich gefühlt wird, sondern eine alte Erfahrung, die beim Schreien im Metal zur Schau gestellt wird. Es ist also vollkommen unmöglich über eine Emotion definiert zu werden, wenn keiner weiß, was genau man fühlt und ob dies wirklich gefühlt wird. Die besagte „Sünde“ bezieht sich also nur auf ein von außen wahrgenommenes Gefühl. Warum hat die Kirche so viel Angst vor fühlenden Menschen? Ich habe da eine Theorie. Die institutionalisierte Religion versucht alles, um das Handeln der Menschen zu kontrollieren, und so ist es auch sinnvoll, die Emotionen zu kontrollieren, besonders den Zorn, da dieser eine natürliche Reaktion auf Institutionen oder Einzelne darstellt, die andere unterdrücken wollen. Wie können Menschen also an einem zornigen Reflex gehindert werden, wenn ihnen ihre Taten und Gedanken vorgeschrieben werden? Erzähl ihnen einfach, dass es eine Sünde ist. Es ist eine Philosophie, die die Selbstverwirklichung verhindert. Je weiter man sich von dem Ursprung entfernt, desto undurchdringlicher wird das Ganze. Zur Zeit von Martin Luther mag es noch möglich gewesen sein, solch einen manipulativen Mechanismus umzukehren. Heute jedoch, nach Hunderten Jahren des Dogmas und der erfolgreichen Gehirnwäsche, kann man sich die Fäuste an der Mauer der blinden Akzeptanz blutig hämmern – so lange man will. Am Ende hast du dann nur blutüberströmte Knöchel und fühlst einen Anflug der Frustration der Moderne.
Ja, und falls du es bis jetzt nicht bemerkt haben solltest – ich habe ein großes Problem mit Religionen. Die organisierte Religion wurde schon immer als Blaupause für unzählige Fehltritte missbraucht, häufiger als alle anderen Institutionen, die mir in meinem Leben begegneten. Schon früh wurde mir eins klar: Für eine Glaubensgemeinschaft, die das Glorreiche der Liebe preist und Zorn als Sünde auffasst, sind sie aber eine Gruppe voreingenommener und aggressiver Menschen, nicht wahr? Wie ich schon sagte – die Scheinheiligkeit ist eine der größten Sünden in der Welt, denn die Auswirkungen sind verheerend. Die Gläubigen werden in eine Richtung gelenkt, während sich die „Rechtschaffenen“ alles erlauben können.
Letztere sollten sich genüsslich selbst ficken!
Ähnlich der Wollust, die einzige andere „Sünde“, die vordergründig als Emotion falsch interpretiert werden kann, ist der Zorn mit einem Stigma behaftet, das sich durch jahrhundertelange Falschdarstellung und Furcht ins Unendliche gesteigert hat. Wenn ein Mensch wütend wird, denken die anderen zwangsläufig, dass etwas Schlimmes geschehen wird – darauf sind sie konditioniert. Das lässt sich zum Teil auf das, ich will es mal scherzhafterweise „Höhlenmenschen-Gen“ nennen, zurückführen, aber auch auf die Propaganda der Religionen. Wenn ich wütend werde, denkt ein Großteil der Menschen automatisch, dass ich jemanden umbringen, meine Kinder schlagen, ein Pferd vergewaltigen oder etwas ähnlich „Langweiliges“ machen werde. Was ist denn hier die größere Sünde? Der Zorn oder die ganze Schlammschlacht, die um dieses Gefühl geschlagen wird?
Wut wird zu einer Sünde, wenn Eltern ihre Kinder schlagen. Ein wahrer Sünder ist der Mörder, der sein Opfer bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Oder ein Lehrer, den seine negativen Gefühle zu Kindern davon abhalten, ihnen etwas beizubringen. Zu den Sündern zählt eine Frau, die ihren Mann betrügt, nur weil er ihr keinen großen Diamantring zum Geburtstag gekauft hat. Die Räder eines Busses mögen „rundlaufen“, aber ein Bus wird dich überrollen, wenn kein Fahrer am Steuer sitzt und ihn lenkt.
Der Zorn ist eine vielschichtige Emotion mit unterschiedlichster Intensität, die sich sogar im positiven Sinn auswirken kann, hat aber durch viele Jahrhunderte unreflektierter Anprangerung seine Narben hinterlassen. Der Zorn kann im Kampf um die Menschlichkeit zu einer mächtigen Waffe werden. Einige würden sogar so weit gehen, diese Emotion zu verdrängen und die Menschlichkeit sich selbst überlassen, was die Frage aufwirft: Welche Sünde ist größer – der Zorn oder die Furcht? Warum sollte ein guter Mensch nichts tun, um die Welt zu verbessern? Ist es besser, das Unbekannte zu fürchten oder das Feuer