Lou Reed - Transformer. Victor Bockris
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Ihr gemeinsames Zimmer war eingerichtet wie eine karge Dichterklause, die Kafkas Vorstellungswelt entsprungen zu sein schien. Auf dem grün gestrichenen Betonboden standen zwei schwarze, eiserne Bettgestelle, identische Tische und ramponierte Stühle; die Beleuchtung bestand aus einer kümmerlichen, kalt leuchtenden Glühbirne. Für die Verzweiflung und den Ehrgeiz der beiden Brüder im Geiste hätte man kein besseres Symbol finden können als diesen Raum. Beide verachteten die Welt ihrer Eltern, der sie nun zumindest zeitweise entkommen waren. Beide hatten die Absicht, diese Welt und ihre Wertvorstellungen zu zerstören, indem sie etwas schrieben, das genauso beißend und zerstörerisch war wie Burroughs’ Naked Lunch, das dieser in Tanger auf der kampferprobten Tastatur seiner Schreibmaschine in das Papier hineingefräst hatte. Dieses Zimmer wurde ihr geistiges Waffenlager, ihr Hauptquartier, ihre Höhle des Wissens und der Gelehrsamkeit, ihr Flugkörper für die Reise ins Unbekannte. Nach und nach übernahm Lou fast das gesamte lincolnsche Repertoire an Gesten, Gedanken und Gewohnheiten. Später gestand er: „Ich beobachte die Leute, die ich kenne, ganz genau, und wenn ich denke, dass ich alles verstanden habe, gehe ich weg und schreibe einen Song darüber. Und wenn ich ihn dann singe, verwandle ich mich in diese Menschen. Deswegen bin ich auch leer, wenn ich nichts tue. Ich habe keine eigene Persönlichkeit, ich leihe mir immer die Persönlichkeit der anderen.“
Er hatte nun sein männliches Gegenstück gefunden, aber um seine männliche und seine weibliche Seite im Gleichgewicht zu halten, benötigte Lou noch eine Freundin. Er erblickte sie, nachdem er eine Woche lang mit Swados zusammenwohnte; sie saß auf dem Vordersitz eines Autos neben einem blonden Footballspieler, der der anderen jüdischen Verbindung des College angehörte. Die beiden fuhren die Marshall Street hinunter, und ihr Begleiter erkannte Reed sofort als den ortsansässigen heiligen Narren. In dem Wunsch, seine Begleiterin, die atemberaubend schöne Shelley Albin aus dem mittleren Westen und frisch am College eingetroffen, zu amüsieren, hielt er an und sagte lachend: „Das ist Lou! Er ist sehr schockierend und böse!“ Er bot dem „verrückten“ Lou an, mitzufahren. Wie sich später herausstellen sollte, war das ein schwerer Fehler.
Obwohl keineswegs so schwierig und verdreht wie Lincoln Swados, war Shelley ein genauso guter Partner für Lou wie sein Zimmergenosse. Shelley war in Wisconsin aufgewachsen und hatte dort das frustrierende Leben eines Beatnik-Wildfangs geführt. Sie war nach Syracuse gekommen, weil es das einzige College war, auf das ihre Eltern sie gehen ließen. Zusammen mit einer Jugendfreundin hatte sie sich auf ihr neues Leben vorbereitet, indem sie beschloss, sich an die Anforderungen des College und der hiesigen Kultur anzupassen. Sie verwarf die Jeans und Arbeitshemden, die sie zuhause getragen hatte, und kleidete sich nun in knielange Röcke und geschmackvolle Blusen, zu denen sie eine Perlenkette trug, so wie alle Mädchen in den Jahrbuchfotos dieser Zeit. Als Lou – begierig darauf, sie kennen zu lernen – auf den Rücksitz des Autos sprang, krümmte sie sich vor Unbehagen über ihre spießige, uniformierte Kleidung und die pausenlosen dümmlichen Kommentare ihres Begleiters. Sie erinnert sich an Lous schmale Hüften, sein kindliches Gesicht, die verräterischen Augen und wusste sofort: „In dem Moment, als er einstieg, war klar, dass wir zusammen ausgehen würden.“ Sie wusste auch, dass sie eine impulsive Entscheidung traf und dass es mit Lou sicher jede Menge Ärger geben würde; doch es würde auch niemals langweilig sein. „Es war so eine Erleichterung, Lou zu treffen, weil er für mich einen normalen Menschen darstellte. Ich war so fasziniert von diesem ganzen düsteren Mist.“
Dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Sobald die beiden Lou vor seinem Wohnheim abgesetzt hatten, stürmte er in sein Zimmer und berichtete Swados atemlos davon, dass er gerade das schönste Mädchen der Welt getroffen habe und sie sofort anrufen müsse.
Lincoln nahm manchmal bei völlig unpassenden Gelegenheiten eine sonderbar väterliche Haltung ein. Er sah sich dann in der Rolle desjenigen, der Lou sicher durch seine stürmischen Launen hindurchnavigierte, und versetzte Lous Plänen einen Dämpfer, indem er ihm erklärte, er, Lincoln, habe dieses Mädchen auch gesehen und betrachte sie als seinen Besitz, obwohl er sich noch nicht mit ihr getroffen habe.
Lou seinerseits sah seine Aufgabe in ihrer Freundschaft darin, den ständig angespannten und überaktiven Swados ruhig zu stellen. Er dachte also darüber nach, dass der unattraktive Lincoln, der in seinem ersten Jahr keine einzige Verabredung zustande gebracht hatte, durch eine Abfuhr, die Shelley ihm todsicher erteilen würde, nur unnütz verletzt werden würde; so verlor Lou keine Zeit und bootete ihn direkt aus, indem er Shelley sofort anrief und sich mit ihr verabredete. Auf diese Weise, so sagte sich Lou, kam Swados zumindest in das Vergnügen ihrer Gesellschaft.
Shelley Albin wurde Lous Freundin während seines zweiten und des folgenden Jahres am College – „Meine Bergspitze, mein Gipfel“, wie er sie später beschrieb – und blieb auch lange Jahre danach für ihn so etwas wie seine Muse. „Lou und ich kamen uns sehr nahe, aber wir waren noch zu jung, um es wirklich in Worte fassen zu können“, sagt Shelley. „Von Anfang an bestand eine sehr starke Bindung zwischen uns. Ohne ihn genau zu kennen, wusste ich alles von ihm. Am stärksten ist mir Lou als eine Art byronesker Charakter in Erinnerung geblieben, als ein sehr anziehender junger Mann. Er war interessant, nicht einer von diesen leeren, roboterhaften Menschen, er war sehr poetisch. Lou war wie Zuckerwatte, ein richtig süßer Schatz.“ Trotz seines exzentrischen Auftretens fand Shelley ihn „sehr geradlinig. Er wusste, was er wollte, war ein guter Tänzer und ein guter Tennisspieler. Seine Ansprüche an das Leben waren auch sehr klar. Er war ein Junge der Fünfziger, der Herr des Hauses, der liebe Gott. Er wollte eine Barbiepuppe als Frau, die ihm Schinken briet, wenn er Schinken haben wollte. Ich war sehr unterwürfig und naiv, und das gefiel ihm.“
Aber Lou hatte auch seine „verrückten“ Seiten, die er manchmal voll ausspielte. Wie viele aufgeweckte Jugendliche, die gerade Kierkegaard und Camus entdeckt hatten, war er der klassische, künstlerisch begabte „bad boy“. Zwischen offen und Angst einflößend hin- und herpendelnd, schwelgte Lou in beidem. „Ein Teil von Lou blieb für immer fünfzehn, ein anderer Teil war schon hundert Jahre alt“, erinnert sich Shelley liebevoll. Glücklicherweise mochte sie beide Seiten von Lou. Als sie anfing, mit Lou auszugehen, tauschte sie ihren Rock und die Perlenkette gegen Jeans und trug ihr Haar wieder lang und glatt statt dauergewellt. Der Junge, den sie wegen Lou fallen ließ, tadelte ihre Verwandlung mit den Worten: „Du gehst vor die Hunde, du bist ein Beatnik, Lou hat dich ruiniert!“ Dabei hatte Shelley, die Kunst studierte, nur zu sich selbst zurückgefunden. Der Vorwurf machte ihr jedoch Spaß, denn sie wusste, wie sehr es Lou mochte, wenn ihn die Leute beschuldigten, sie zu verderben; es verlieh seinem schlechten Ruf noch mehr Glaubwürdigkeit. Shelley war auch ungewöhnlich hübsch, und bis heute erinnern sich sämtliche Lehrer und Freunde von Lou vor allem daran, dass er „eine überwältigende, tolle Freundin hatte, die außerdem sehr, sehr nett war“.
Shelley Albins Gesicht war einzigartig. Wenn man sie direkt anschaute, so fielen vor allem ihre Augen auf. Ein inneres Licht schien in ihnen zu schimmern. Ihr Nase war gerade und vollkommen. Wangen und Kinn waren so fein gemeißelt, dass sie das Modell vieler Kunststudenten in Syracuse war. Ihr Gesicht war offen und geheimnisvoll zugleich. Ihr Mund sagte „Ja“. Aber ihre Augen hatten einen