Nixentod. Thomas L. Viernau

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Nixentod - Thomas L. Viernau

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Gründe, warum Personen in unserer Gesellschaft immer wieder ins Abseits geraten und als vermisst gemeldet werden, sind ausgesprochen vielfältig. Oftmals werden Personen als vermisst gemeldet, die bereits seit Monaten keinen Kontakt mehr zu ihrer Umwelt hatten und vollkommen vereinsamt sind. Dieses Problem der gesellschaftlichen Isoliertheit und Vereinsamung wird inzwischen als ein soziales Problem erkannt und rückt immer mehr in den Brennpunkt kommunaler Politik. Mit entsprechenden Angeboten versuchen die Kommunen hier Abhilfe zu schaffen.

      Potsdam

      Freitag, 6. Januar 2006

      Linthdorf legte die Zeitung weg und ging zum Fenster. Es war einer dieser typischen grauen Wintertage. Ein wirkliches Wetter ließ sich nicht definieren. Über dem Häusermeer von Potsdam lag dichter weißgrauer Nebel. Ein ungemütlicher Wind pfiff durch die Straßen und eisiger Sprühregen verbreitete zusätzlich ein Gefühl von Kälte.

      Er stand immer noch am Fenster seines Büros im fünften Stock eines Siebzigerjahrebaus, stierte in den grauen Tag und grübelte vor sich hin. Irgendwie lief seine Zeit hier nach einer eigenen Uhr ab.

      Die Tage dehnten sich und die kurzen Abende und die noch selteneren freien Wochenenden wurden auf den Augenblick eines Atemzugs reduziert.

      Ein Blick auf seinen Schreibtisch schien diesen Eindruck zu bestätigen. Akten stapelten sich zu Papierhaufen beachtlicher Größe. Linthdorf staunte immer wieder, dass diese Stapel nicht umfielen. Wieder war eine blassgrüne Mappe auf seinem Tisch gelandet. Wahrscheinlich wieder eine der zahllosen Vermisstenanzeigen, die in den letzten Jahren immer mehr geworden waren. Die Aufklärungsrate bei solchen Fällen war leider nicht sehr hoch, da die meist jugendlichen Ausreißer sich sehr schnell dem Bereich der Zuständigkeit deutscher Justiz entzogen.

      Oftmals meldeten sie sich völlig abgebrannt erst nach Jahren aus Thailand oder Brasilien zurück. Amtshilfeersuchen brachten meist nur viel bürokratischen Aufwand, aber selten Ergebnisse.

      Lustlos schnappte er sich die dünne Mappe. Sie trug den Stempel der Kripo aus Frankfurt/Oder. Unterschrift unleserlich. Die hatten den ganzen Fall einfach ans LKA abgegeben. Ein paar Fotos rutschten heraus.

      Kein schöner Anblick. Eine Wasserleiche, ziemlich entstellt. Der kurze, sachliche Bericht, der beigefügt war, versetzte Linthdorf auch nicht gerade in Euphorie.

      Was sollte er jetzt hier noch ermitteln?

      Die Frau konnte von sonst wo kommen: Ukraine, Weißrussland, Rumänien oder noch weiter weg. Der Tag hatte bereits einen ersten Kratzer aufs Gemüt des Mittvierzigers gezeichnet. Ja, natürlich gab es einen Routineablauf für solche Vorgänge.

      Immer das Gleiche: Klärung der Identität, Klärung der Todesursache, Klärung des Umfelds. Er musste sich zunächst in die Gerichtsmedizin begeben. Schließlich konnten anhand körpertypischer Merkmale erste Indizien zur Herkunft der Unbekannten festgestellt werden. Ein kurzes Telefonat mit den Gerichtsmedizinern, Linthdorf schwang sich schwerfällig aus dem Drehstuhl, der unter seinem Gewicht schon des Öfteren nachgegeben hatte und seitdem ein etwas wackliges Konstrukt war.

      Irgendwelche Schrauben waren auch schon abhandengekommen, so dass die Höhe des Stuhles nicht mehr einstellbar war. Jedenfalls hatte Linthdorf sich mit den Gebrechen seines Stuhls vertraut gemacht und achtete darauf, nicht allzu oft damit zu drehen.

      Wenn er im Zimmer aufrecht stand, wurde es dunkel. Sein massiger Körper verdeckte so ziemlich vollständig das Fenster und nahm auch dem Neonlicht den größten Teil seiner Helligkeit.

      Linthdorf war dieser Effekt bewusst. Irgendwie war es ihm peinlich, sobald andere Menschen im Raum waren. Er setzte sich deshalb auch stets schnell wieder hin und nahm so den Besuchern seines Büros die Beklemmungen, die unweigerlich aufkamen, wenn sie ihn in voller Größe hier erblickten. Mit einer lichten Höhe von zwei Metern und vier Zentimetern und einem Lebendgewicht von annähernd 130 Kilogramm war Linthdorf eine ungewöhnliche Erscheinung.

      Potsdam

      Immer noch Freitag, 6. Januar 2006

      Die Gerichtsmedizin in Potsdam war ein von den Leuten der Kripo oft frequentierter Ort. Das ockerfarbene Gründerzeitgebäude hatte schon viele Beamte in seinen labyrinthischen Gängen gesehen, die dann in den einzelnen Sälen mit stets traurigen Blicken auf die Überreste menschlichen Daseins blickten.

      Linthdorf ging zielstrebig zum Keller mit dem römischen Buchstaben III und versuchte flacher zu atmen um den durchdringenden Geruch etwas abzuschwächen, der diesem Gebäude inzwischen eigen war.

      Die Gerichtsmediziner liefen alle in den grünen Kitteln und mit den weißen Kopfschutzhauben herum, die zu einer Art Uniform für diesen Berufsstand geworden waren. Linthdorf hielt Ausschau nach einem bestimmten Grünkittel.

      Schließlich sah er ihn, vornübergebeugt über einen Tisch, auf dem gerade eine Leiche kunstfertig auseinandergenommen wurde. Ein zweiter Grünkittel assistierte ihm. Kurzer Gruß, man kannte sich.

      Linthdorf hielt Abstand, er hatte zwar schon vieles in seiner Laufbahn erlebt, aber der Anblick der leblosen Körper auf dem blanken Metalltisch hatte jedes Mal verheerende Wirkung: Übelkeit, wackelige Knie und Schweißausbrüche.

      Er kannte das schon, versuchte sich auf etwas Harmloses zu konzentrieren, starrte die gegenüberliegende Wand an, wo ein großes gerahmtes Poster mit einer mediterranen Küstenlandschaft für Reisen nach Kreta warb. Eigentlich ein komischer Kontrast, im Angesicht des Todes vom Urlaub zu träumen. Endlich schien der Grünkittel sein blutiges Werk vollbracht zu haben. Er blickte auf, sah Linthdorf etwas blass vor sich hin stieren, lächelte fein.

      »Na, was führt dich mal wieder hierher?«

      Linthdorf war erleichtert. »Können wir kurz sprechen? Ich glaub’, du kannst mir etwas zu der Wasserleiche aus der Oder erzählen, die vorgestern bei euch reinkam.«

      Der Grünkittel hatte Mitleid mit Linthdorf. »Komm, wir gehen hoch! Trinken einen Kaffee.«

      Erleichtert verließ Linthdorf zusammen mit dem Grünkittel die unterirdischen Gefilde. Im Erdgeschoss hatte die Gerichtsmedizin eine kleine Cafeteria mit Imbissangebot für die Mitarbeiter des Hauses eingerichtet. Die zehn Plastiktischchen und die darum herumstehenden Plastikstühle verbreiteten eher Bahnhofsatmosphäre denn die Gemütlichkeit einer Cafeteria.

      Sie waren aber dennoch gut frequentiert. Ein paar Yuccapalmen sorgten für etwas Grün inmitten des tristen Grau und Weiß. Linthdorf steuerte den runden Tisch direkt neben den Yuccas an.

      Auf dem Tablett zwei Pott Kaffee, dazu ein paar Croissants. Der Grünkittel fing an, herzhaft in sein Croissant zu beißen. Krümel stiebten herum, bedeckten die bis dahin monoton grüne Brust mit hellen Sprenkeln. Linthdorf lächelte, es ging also nicht nur ihm so, wenn er in solch fragile Backwerke biss.

      »Also, deine Odernixe ist wahrscheinlich keine Ausländerin. Die Zähne sind eindeutig von einem hiesigen Zahnarzt behandelt worden. Sowohl die Ausführung der Arbeiten als auch die verwendeten Füllungen sind gute deutsche Wertarbeit. Da kannst du mit deinen Nachforschungen anfangen. Eine ziemlich komplizierte Arbeit, kann nur ein Spezialist, ein Kiefernchirurg vielleicht, ausgeführt haben. Davon gibt es nur wenige. Die Dame muss bereits in früher Jugend einen Großteil ihrer Zähne eingebüßt haben. Sowohl oben als auch unten sind komplizierte Kronen und Brücken montiert worden. Natürliche Zähne hatte sie nur noch drei, obwohl sie gerade mal Ende Dreißig war.

      Außerdem

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