Nixentod. Thomas L. Viernau

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Nixentod - Thomas L. Viernau

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Jetzt war die Zeit gekommen, endlich auch hier einmal reinen Tisch zu machen. All die Wut, die Karolin über Jahre in sich angestaut hatte, brach nun aus ihr heraus.

      »Immer hast du mir in mein Leben gepfuscht. Ständig dein Bemuttern und Getue! Es reicht ... Ich hab’s satt. Lass mich einfach in Ruhe! Ich will mir auch nicht länger deine schwachsinnigen Kommentare anhören, was mein Privatleben betrifft. Vielleicht denkst du mal nach, warum ich so geworden bin?«

      Für einen langen Moment herrschte betretenes Schweigen. Nur das Pfeifen des Windes in den Hausecken war zu vernehmen.

      Der Mutter ging durch den Kopf, was für ein Problemkind Karolin stets war. Sie war eigentlich nicht erwünscht gewesen. Als sie die Schwangerschaft bemerkt hatte, war es schon zu spät. Und Abtreiben im konservativen Bayern der Sechziger Jahre war undenkbar. Zwischen ihr und ihrem Mann war der letzte Funken Liebe schon längst zertreten, als es passierte.

      Sie hatte sich gewehrt, aber er war stärker ...

      Anschließend lag sie den Rest der Nacht wach und weinte, während er seinen Rausch ausschlief. Von diesem Zeitpunkt an hatten sie getrennte Schlafzimmer. Sie wollte nicht mehr mit so einem Tier ihr Bett teilen. Aber diese Nacht hatte Folgen.

      Karolin kam zur Welt. Und von Stund an machte sie Probleme. Wie ein kleiner bösartiger Dämon, der in dem Mädchen zu leben schien, schlich sich der Unfriede in ihr Leben. Die Kleine war ein regelrechter Kobold. Im Gegensatz zu ihren vier größeren Geschwistern, die allesamt harmonisch miteinander umgingen und auch sonst schon ziemlich selbständig waren, schien sie es regelrecht auf Streit und Aufruhr abgesehen zu haben. Keiner kam klar mit ihr.

      Die größeren Schwestern waren selten dazu zu bewegen, die Kleine mit in ihre Spiele einzubeziehen. Sie machte ihnen alles immer nur kaputt, riss den Püppchen die Arme aus oder zertrampelte einfach die mühsam aufgebaute Puppenstube.

      Selbst die Großmutter, zu der alle gern gingen, war mit dem Mädchen überfordert. Die Oma galt als grundgütige Frau, die den Kindern Märchen vorlas, ihnen ein Kasperletheater bastelte und sie in die nahen Berge zum Wandern mitnahm. Karolin schaffte es aber, dass die alte Frau ausrastete und ihr eine Tracht Prügel verabreichte. Etwas, was sie bei keinem ihrer anderen Enkelkinder jemals auch nur ansatzweise gemacht hatte. Karolin hatte die Katze der Großmutter in einen Schrank gesperrt und sie einfach darin vergessen. Als man nach langer Suche endlich das arme Tier gefunden hatte, war es jämmerlich erstickt und lag mit ausgestreckten Pfötchen auf dem Boden des Schrankes.

      Später dann in der Schule ging der Stress mit Karolin weiter. Sie musste sieben Mal in acht Jahren die Schule wechseln. Immer galt sie als verhaltensauffällig.

      Einmal hatte sie die Lehrerin mit ihren spitzen Fingernägeln so zerkratzt, dass die Polizei gekommen war. Ein anderes Mal provozierte sie, indem sie vor versammelter Klasse in den Schulraum pinkelte, oder sie schwänzte die Schule und verschwand einfach so für ein paar Tage. Ihrer Mutter erzählte sie stets neue Lügengeschichten. Das Klassenzimmer werde renoviert oder es sei Wandertag und sie fühle sich nicht wohl und bräuchte daher nicht mit.

      Als sie vierzehn wurde, wusste sich die Mutter nicht mehr anders zu helfen und meldete Karolin in einer Katholischen Internatsschule mit Ganztagsbetreuung an. Doch sie schaffte es, drei Mal von dort auszureißen. Entnervt gab die Mutter auf, schickte sie zur Großmutter nach München in der Hoffnung, dass sie das Mädchen halbwegs zur Vernunft bringen würde.

      Die letzten Schuljahre quälte sich Karolin auf einer Haushaltsschule durch den Stoff. Lernen war nicht ihr Ding. Obwohl sie einen intelligenten Eindruck machte, war ihr das gesamte Schulsystem suspekt. Sich einbringen in eine existierende Struktur, Hierarchien akzeptieren und eine gewisse Disziplin im Umgang mit anderen Menschen – all das war für sie ein rotes Tuch.

      Karolin wurde immer rebellischer. Ihre Haare hatte sie zu Dreadlocks gedrillt, sie rauchte knapp zwei Schachteln Zigaretten am Tag und trieb sich auf Partys herum, auf denen gekifft wurde und oft auch härtere Drogen mit im Spiel waren.

      Ihre Aggressionen lebte sie nun vor allem auf Demos aus. Sie gehörte mit zum harten Kern der linken Szene, marschierte gegen alles, warf Molotow-Cocktails, ließ sich mit anderen Aktivisten an Eisentore anketten, die den Zugang zum AKW Wackersdorf versperrten, sägte Bahnschienen an, auf denen Castor-Transporte rollten, und hatte ständig wechselnde Liebschaften.

      Die eigentlichen Inhalte dieser Demos und Protestaktionen waren ihr nicht wichtig, die Hauptsache war dieser kribbelnde Spaß am Abenteuer. Sie betrachtete die Welt wie einen großen Spielplatz, den man nur entsprechend nutzen musste. Mit ihrer beruflichen Entwicklung ging es daher nicht so recht voran. Sie war jung, wollte etwas erleben und nicht schon wieder eine Schulbank drücken. Wenn sie Geld brauchte, jobbte sie stundenweise in Kneipen oder ging auch mal auf den Amateurstrich.

      Und jetzt stand sie mit Mitte Vierzig vor ihr. Die Dreadlocks waren verschwunden, die etwas gammeligen Klamotten hatte sie abgelegt und sich ein halbwegs bürgerliches Outfit gegeben, aber noch immer besaß sie diese unterschwellige Aggressivität. Gerade konnte man das in ihrem Gesicht wiedererkennen. Sie schien alles um sich herum vergessen zu haben, stierte ihre Mutter an und schwieg immer weiter.

      »Ach Kindchen...«, weiter kam sie nicht mehr.

      Karolin hatte sich die schwere Schöpfkelle geschnappt und diese mit einer immensen Kraft auf den Kopf ihrer Mutter gehauen.

      Diese fiel sofort um.

      Kein Klageton war zu vernehmen.

      Wahrscheinlich war sie ohnmächtig geworden.

      Karolin beugte sich hinab.

      »Mama, so war das nicht gemeint! Mama, komm sag doch was ... Mama!«

      Die Frau am Boden antwortete nicht. Ihre Augen standen offen, und es schien, als ob sie sich wundere über diesen so plötzlichen Schlag.

      Karolin begriff, dass sie tot war. Sie war von ihrem eigenen Jähzorn überrascht. Dann setzte sie sich an den Küchentisch. In ihr arbeitete es. Sie knabberte an ihren Fingernägeln. Das machte sie immer, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Etwas war jetzt in diesem Moment zerbrochen, etwas, dass sie mit der normalen Welt verband.

      Die leblose Person am Boden schien das Ende einer wild sich drehenden Spirale zu sein, die sich seit dem Bruch mit Arvid vor drei Tagen zu drehen begonnen hatte. Karolin bezeichnete solche Phasen, die sie immer wieder durchlebte, mit »am Rad drehen«.

      Tief in ihrem Innersten wusste sie, dass sie selbst diejenige war, die »am Rad drehte«. Aber sie gestand sich das nie so richtig ein. Immer drehten andere am Rad, welches ihr Schicksal in immer verhängnisvollere Situationen verschlug. Die jetzige Situation schien eine bisher noch nie da gewesene Qualität erreicht zu haben.

      Sie war allein mit einer Toten, die noch dazu ihre Mutter war. Dass sie die Frau mit dem Schlag getötet hatte, verdrängte sie. Es war ein Unfall, ein unglücklicher Ausrutscher, der ihr da im Zorn passiert war. Man nannte so etwas Affekt ...

      Innerlich kam sie langsam wieder zur Ruhe. Nein, wegen dieser Affekthandlung würde sie sich nicht verantworten müssen, das war ihr klar. Aber sie musste etwas machen mit der Leiche.

      Eine dunkle Blutlache hatte sich inzwischen auf dem Fußboden breitgemacht. Es wurde immer offensichtlicher, was gerade passiert war. Die leblose Frau konnte nicht so liegen bleiben. Ob sie den Notdienst vom nahen Virchow-Klinikum anrufen sollte? Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Mehr als den Tod feststellen, konnten die auch nicht.

      Es würden wohl eine ganze Menge lästiger Fragen

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