Live dabei - Mein Leben mit den Rolling Stones, Grateful Dead und anderen verrückten Gestalten. Sam Cutler
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Wir sollten uns nicht vor einem miesen Trip fürchten, denn in dem Fall könnten er und die Lady aus dem Sessel uns helfen. Ich holte tief Luft und bereitete mich vor. Wir nahmen alle einen Zuckerwürfel und warteten gespannt darauf, was passieren würde.
Die Leute setzten sich auf die Kissen am Boden, und Dylans „Desolation Row“ lief quasi in einer Endlosschleife. Keiner konnte das sich in die Unendlichkeit erstreckende Panorama des Songs verstehen, seine poetische Bildhaftigkeit und die kämpferische Botschaft. Fast alles, was ich bislang gehört hatte, schien mir hohl und bedeutungslos – sinnlose Pappmusik für die Massen. Ich steigerte mich in Dylans apokalyptische Visionen hinein. Wir verließen die Ebene der simplen Worte.
Alles, was die konservative Gesellschaft als wichtig empfand, alles, an das wir jemals geglaubt hatten, wurde neu aufgezeichnet, neu definiert, radikal niedergerissen und neu aufgebaut. Noahs großer Regenbogen schwebte von der Decke herunter, die Gesichter der Leute zerflossen und formten sich neu, eins der Mädchen schluchzte stoßweise vor Glückseligkeit, und der kleine Amerikaner lächelte uns durch seine Brille wohlwollend an.
Ich trank Wasser, das sich dickflüssig anfühlte, ähnlich geschmolzenem Blei. Die metallischen Moleküle knallten aneinander und verursachten ein merkwürdiges Geräusch in meinem Magen. Ich kroch zu der Lady im Sessel, legte den Kopf in ihren Schoß, und sie streichelte mir durchs Haar.
Ich zerfiel in tausend Stücke. Mein altes Ich hatte sich aufgelöst.
Die Nacht verbrachte ich fröstelnd mit einigen der Leute in den Parliament Hill Fields, wo wir die Sterne betrachteten. Ich fühlte mich so hungrig, dass ich am liebsten die komplette Milchstraße in mich aufgesogen hätte. Die riesige Himmelskuppe streckte in ihrer gütigen Endlosigkeit die funkelnde Arme herab, um mich, das traurige Kind, zu umschließen und sanft zu wiegen.
Jedes bislang erlebte Gefühl rauschte mit unglaublicher Geschwindigkeit an mir vorbei. In der gleichen Rasanz schüttelte ich diese Emotionen ab. Ich musste das bisher Gelernte wie nutzlosen Ballast hinter mir lassen.
Ich war absolut überzeugt, dass neues und revolutionäres Wissen in mich eindrang, und aß ein wenig Gras, um zu erfahren, wie man sich als Kuh fühlt. Kurz danach musste ich kotzen. Als ein kalter und trüber Londoner Morgen anbrach, gingen wir durch die leeren Straßen in Richtung Covent Garden und setzten uns dort in ein Arbeitercafé. Ich starrte in den verqualmten Laden, beobachtete die Leute und hatte das Gefühl, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein.
Ich versuchte einige Eier zu verputzen, doch als ich das Eigelb näher betrachtete, spielte mir die Wahrnehmung einen Streich. Ich sah Reste von Geflügelfedern, die in der Mitte herumflatterten, und konnte allein die Vorstellung nicht ertragen, mir das einzuverleiben. Der Tee hatte die Farbe tiefroten Bluts angenommen, der Toast schmeckte wie die harte Haut einer unbekannten Tierart. Ich musste schleunigst hier weg.
Irgendwie gelang es mir, einen Zug in der Liverpool Station zu erreichen, der mich nach Hause beförderte. Während die Kirchglocken schrill läuteten, hetzte ich mit zitternden Lippen und kalten Schweiß auf der Stirn zu meiner Wohnung. Niemand scherte sich um mich – typisch britisch! Endlich erreichte ich meine kleine Wohnung, kroch ins Bett und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Nach Trillionen von Gedankenfetzen, die in meinem Gehirn einen wahren Aufstand veranstalteten, schlief ich endlich ein.
Tags darauf wollte ich nicht unterrichten und entschied mich für einen Spaziergang durchs Grün. Ich musste frische Luft schnappen und die intensivste Erfahrung verdauen, die ich jemals gemacht hatte. Ich schlenderte über die schmalen Straßen in Essex und machte mir mit einer beeindruckenden, nie zuvor erlebten Klarheit Gedanken über meine Zukunft. Ich war überzeugt, dass mich die Bäume verstanden, die Pflanzen auf den Feldern unterstützten und sogar die Vögel durch ihr instinktives Verhalten verehrten. Ich fühlte mich so lebendig wie nie zuvor. Mein Entschluss stand fest: Ich wollte die Entdeckungsreise fortsetzen, mich weiter auf die Musik konzentrieren und alles, was mir während des Trips über meine Zukunft enthüllt worden war, in meine Entscheidungen einfließen lassen. Für mich stellte das neue psychische Empfinden ein wichtiges Element dar, eine Straße, die mich zu einem höheren Bewusstsein führte, das ich erforschen wollte. In ganz Europa und den USA zogen jungen Menschen dieselben Schlüsse.
4. Schatten und Licht
Der unmittelbare Effekt des LSD bewirkte aber auch einen leichten „Knick“ meines Selbstbewusstseins. Mein Verständnis der Welt war schlagartig auf den Kopf gestellt. Ich erkannte, dass ich keine Ahnung von der subjektiven Natur der individuellen Wahrnehmung der Realität hatte. Mein Ich schien Zuflucht bei einem neuen Bewusstsein gefunden zu haben, und ich musste täglich kämpfen, um die gerade gemachten Erfahrungen mit dem täglichen Leben eines Lehrers in Einklang zu bringen.
Nach einem zweijährigen Kampf zwischen meinen Lust-Dämonen und der Knochenmühle des Lebens gab ich den Lehrerjob auf. Das Gehalt reichte kaum zum Leben, außerdem konnte ich die anderen Lehrer nicht leiden.
Na ja, um ehrlich zu sein, erschienen mir Genuss und Hedonismus attraktiver und machten auch mehr Spaß! Der ursprüngliche Enthusiasmus und Idealismus waren wie weggefegt, hatten sich an den von Natur aus konservativen Richtlinien des Bildungssystems abgerieben. Die Kids interessierten mich, die Erwachsenen hingegen langweilten mich zu Tode. Nachdem ich die Schule verlassen hatte, vermisste ich die Kinder, und ich hoffte, auch sie würden noch oft an mich denken.
Ich zog mit Freunden in eine Wohngemeinschaft an der Inverness Terrace im Herzen Londons und widmete meine ganze Energie den Aktivitäten des Musikgeschäfts und dem wohl wichtigsten Faktor im Leben eines jungen Mannes – Spaßhaben.
London war ein brodelnder Hexenkessel, dessen süßliche Rauschwaden gen Himmel zogen. Meine neue Bude lag gleich links um die Ecke von der U-Bahn-Station Queensway aus gesehen. Über die Straße hinweg erstreckte sich das Grün des Hydeparks. Dort bemerkte ich kleine Gruppen junger Leute, die sich in wahnsinnig bunten Klamotten wie feminin wirkende Dandys aus der Regency-Zeit kleideten, den Tag an sich vorbeiziehen ließen und insgeheim Joints rauchten. Man konnte sich ganz ungezwungen zu einer Gruppe Fremder setzen und mit ihnen einige Worte wechseln. Die Leute teilten gerne das, was sie besaßen – außer man war ein Langeweiler oder ein Polizeibeamter.
Im Richmond Park, im Westen Londons, graste eine große Herde Hirsche. Nach verregneten Nächten gingen wir schleunigst in den Park, um Magic Mushrooms zu suchen, die auf dem Kot der Tiere wuchsen, die gemächlich auf dem Grün grasten. Die kleinen, glockenförmigen Pilze sprossen in ungeahnter Geschwindigkeit empor und wackelten auf den spindeldürren Stämmchen. Kein Problem, die Dinger zu finden.
Im frühen Morgennebel schlichen jungen Menschen lachend und kichernd durch das nasse Gras. Die Polizei hatte natürlich keine Ahnung von diesen „frühen Vögeln“, die „neue Würmer“ fingen.
Dann fuhren die Leute nach Wales, um Pilze zu sammmeln; hier waren diese im Übermaß zu finden. Schnell bildete sich eine ganze Bewegung ehemaliger Stadtbewohner, die nun in den walisischen Tälern lebten. Plötzlich standen Indianerzelte zwischen den Hügeln, die schon seit einer Generation kaum ein Mensch betreten hatte, weil die Farmen unwirtschaftlich geworden waren. Haschisch wie Schwarzer Afghane oder Roter Libanese waren in London und den angrenzenden Grafschaften an jeder Ecke zu haben. Bei einem Spaziergang über den Kensington Market oder die Kings Road hinunter roch man überall Joints. Fast von Minute zu Minute wurde die Mode flippiger und abgedrehter. Nie sahen die Frauen schöner aus.
Wir steckten mitten in einem Generationswechsel. Die Veteranen des Zweiten Weltkriegs rissen nun die Macht an sich.
Die politische Ausrichtung der Studenten in Großbritannien