Papakind. Isolde Kakoschky
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Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht stritten. Das gute Geschwisterverhältnis war fürs Erste vorbei. Aber das Schlimmste für Franzi war, dass bei jedem Streit die Mutter für Alex Partei ergriff, selbst wenn sie gar nicht wusste, wie der Streit entstanden war. Und beim Vati konnte sich Franzi nicht ausheulen, weil der gerade über die Woche auf einer entfernten Baustelle als Bauleiter arbeitete und nur am Wochenende heim kam. Dann aber wollte ihn Franzi nicht mit dieser Kinderkacke nerven. Sie kam schon alleine klar. Im schlimmsten Fall war da ja noch Oma Klara, die sich gerne ihrer Enkelin annahm. Dann saß sie bei der Oma in der Stube und erzählte von ihren Erlebnissen oder die Oma berichtete was von früher. Manchmal sahen sie auch Bilder an, von Oma und Vati von früher und je älter Franzi wurde, um so mehr entdeckte sie kleine Ähnlichkeiten zu sich. Es gab Momente, da wollte Franziska schon die Oma fragen, ob sie was von dieser Helene wusste, aber sie traute sich dann doch nicht, es schien ein Tabu in der Familie zu sein.
»Du, Oma, ich muss dir was erzählen«, begann Franzi eines Tages zu berichten. Am Abend zuvor hatten sie mit dem Deutschkurs einen Auftritt vor Frauen zum Frauentag gehabt. Ihre Rezitationen kamen sehr gut an. Und bei Einem kam Franziska besonders gut an.
»Oma, er heißt Heiner und ist eine Klasse über mir. Wir haben immer zusammen geübt. Und gestern hat er mir erst den Stuhl weg gezogen, so dass ich mich daneben gesetzt habe, und dann hat er mir beim Aufstehen geholfen«, fasste Franzi den Abend kurz zusammen. Wie sehr ihr Herz geklopft hatte, als der Junge sie festgehalten hatte, verschwieg sie lieber. Aber die Oma merkte trotzdem, dass da etwas anders war, als wenn die Enkelin sonst von Schulkameraden erzählte. Und mit ein bisschen
Wehmut dachte sie, nun wird das kleine Mädchen schon langsam erwachsen.
Von nun an verbrachte Franziska viel Zeit mit Heiner. Sie waren gemeinsam beim Deutschkurs, gingen zusammen zum Schwimmen, Heiner wartete vor dem Klubhaus, wenn Franzi Zeichenunterricht hatte und selbst auf dem Schulhof sprachen sie immer öfter zusammen, allen albernen Sprüchen der Mitschüler zum Trotz. Seit dem schien sich aber das Band zwischen Franzi und Verena immer mehr zu lösen. Hatten sie sich zwischenzeitlich auch wieder zusammengerauft, den Heiner mochte Verena gar nicht und je öfter sie das deutlich sagte, um so mehr stellte sich Franzi auf Heiners Seite und gegen Verena.
Das Schuljahr ging dem Ende zu, als die Klasse zu einem Ausflug mit dem Bus aufbrechen wollte. Franziska, Maria und Heidi, die alle irgendwie in der Nähe wohnten, saßen zusammen auf einer Bank beim Busbahnhof. Sie waren etwas zu früh da und beobachteten die Busse, die zu den Haltestellen fuhren. Ein Bus fuhr eben los. In dem Moment rannte eine Frau darauf zu. Der Fahrer versuchte noch zu bremsen, doch es war zu spät. Der Bus hatte die Frau überrollt. Sie lag nun unter dem Bus zwischen den Rädern. Blut floss aus einer großen Wunde, die Frau war ohne Besinnung.
Die Mädchen sahen mit aufgerissenen Augen minutenlang auf die Szenerie und wollten kaum glauben, was sie gerade mit angesehen hatten. Mit Notsignal bogen Polizei, Notarzt und Krankenwagen auf dem Platz ein. Dann war es unnatürlich ruhig. Plötzlich durchdrang ein markerschütternder Schrei die lähmende Stille. Franzis Stimme klang so verzerrt und schrill, dass sich sofort alle Augen ihr zuwendeten. Maria und Heidi sahen ihre Mitschülerin erschrocken an. Sie war totenblass, fühlte sich eiskalt an und begann trotz der sommerlichen Wärme fürchterlich zu zittern. Die beiden versuchten, auf Franzi einzureden, doch die registrierte sie gar nicht. Seit dem Schrei hatte sie keinen Ton mehr von sich gegeben.
Eine Menschentraube hatte sich auf dem Platz gebildet und stand um den Unfallort herum. Nur die Mädchen hockten hilflos auf der Bank. Mit einem Mal sprang Franzi auf und noch ehe jemand zufassen konnte, war sie schon vor der Bank zusammengebrochen.
»Hilfe!«, riefen Heidi und Maria wie aus einem Mund.
Im Krankenwagen hatten sie begonnen, die schwer verletzte Frau zu behandeln. Doch einer der Sanitäter war auf die Mädchen aufmerksam geworden, er kam hinzu und sah sich die am Boden liegende Franzi an. »Sie hat einen Schock«, vermutete er. »Ich glaube, es wird besser sein, wir nehmen sie mit ins Krankenhaus.« Er legte ihr vorsichtig die Beine hoch und langsam kam das Mädchen wieder zu sich. Über Funk wurde noch ein Krankenwagen angefordert und Franzi ins Krankenhaus transportiert.
»Frau Zandler, Ihre Tochter liegt hier bei uns auf der Station, es wäre schön, wenn Sie bald kommen könnten.« Der Stationsarzt hatte Gudrun im Büro der Stadtverwaltung, wo sie stundenweise arbeitete, angerufen.
»Um Himmels Willen, was ist passiert?« Der Schreck fuhr ihr gewaltig in die Glieder.
»Das würde ich gerne mit Ihnen persönlich besprechen.«
»Ist gut, ich komme und ich informiere auch meinen Mann«, entgegnete Gudrun.
»Hallo Franz«, rief sie sofort ihren Mann an.
»Kannst du gleich mal her kommen? Franziska ist
im Krankenhaus. Am Telefon wollten sie mir nichts sagen. Ich mache mich gleich auf den Weg.«
Franz war genau so erschrocken wie seine Frau.
»Natürlich komme ich, aber eine halbe Stunde brauche ich doch. Wir treffen uns dann im Krankenhaus.«
Zehn Minuten später stand Gudrun im Schwesternzimmer. »Sie können ruhig zu ihrer Tochter gehen«, wies ihr eine freundliche Krankenschwester den Weg. »Der Arzt wird nachher mit Ihnen sprechen, wenn Ihr Mann da ist.«
»Aber was hat Franziska denn?« Gudrun wollte nicht ganz unvorbereitet zu dem Kind kommen.
»Soweit ich weiß, ist es ein schwerer Schock, aber mehr kann Ihnen wirklich nur der Arzt sagen.« Damit musste Gudrun fürs erste zufrieden sein.
Als sie ins Zimmer kam, lag Franzi blass und klein in den weißen Laken. Sie starrte ins Leere und schien sie gar nicht zu bemerken.
»Franziska, Liebes, was ist passiert?« Die Mutter strich ihrer Tochter übers Haar. »Egal was es war, es wird alles wieder gut, ganz bestimmt.« Sie musste ihr etwas Tröstendes sagen. Doch von ihrer Tochter kam keine Antwort. So setzte sie sich auf die Bettkante und hielt Franzis Hand. Ewig lang schien ihr die Zeit, bis endlich die Tür aufging und Franz hereinkam.
»Franzi, mein Engel, was ist denn passiert?«, fragte nun auch er seine Tochter. Kaum merklich drehte Franzi den Kopf. »Vati, Mutti, ich kann nichts dafür.« Eine Träne lief ihr über die Wange. In dem Moment trat der Arzt ins Zimmer.
»Oh, das ist aber ein gutes Zeichen, wir reden ja wieder, junge Dame! Ich möchte mal kurz mit deinen Eltern sprechen, dann kommen sie gleich wieder zu dir.«
Die drei verließen das Krankenzimmer. »Ihre Tochter hat einen schweren Schock«, begann der Arzt zu erklären.
»Ja, aber wieso und von was? Sie wollte heute mit der Klasse einen Ausflug machen. Was ist denn nur passiert, so reden Sie doch!«, drängte die Mutter den Arzt.
»Ach so, deshalb waren die Mädchen also auf dem Busbahnhof.« Der Arzt nickte verstehend. »Und dort wurden sie unfreiwillig Zeugen eines schweren Verkehrsunfalls, eine Frau wurde von einem Bus überfahren und ist leider inzwischen verstorben. Kennen Sie die Frau?« Er nannte den Namen, doch sowohl für Gudrun wie auch für Franz war es eine völlig Unbekannte. Sie schüttelten die Köpfe.
»Dann verstehe ich nicht, wieso Ihre Tochter plötzlich in solch einen Schockzustand gefallen ist. Sie war ohnmächtig, nicht mehr ansprechbar und bis