Das Versagen der Kleinfamilie. Mariam Irene Tazi-Preve

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Matriarchale Kulturen spannen sich über den ganzen Globus und sind gut erforscht. Sie existieren z.B. in Südchina – die Mosuo (Rosati Freeman 2015, Danshilacuo/Mei 2009, Madeisky/Parr/Margotsdotter 2014 u.a.) – und auf der indonesischen Insel Sumatra – die Minangkabau (Reeves Sanday 2006 u.a.). Es gibt sie in Indien – z.B. die Khasi (Mukhim 2009) –, in Afrika und bei den indigenen Völkern der Amerikas. Und alle matriarchalen Gesellschaften haben ähnliche Grundcharakteristika.

      „Matriarchat“ leitet sich etymologisch vom lateinischen „Mater“ und dem griechischen „Arche“13 her und bedeutet „am Anfang die Mutter“. Es enthält im Unterschied zu „Patriarchat“ in der Bedeutung „pater arche“ (die Herrschaft des Vaters) keinen Dominanzanspruch. Die hellenischen Eroberer des vorpatriarchalen Griechenlands deuteten den Wortstamm, der „Anfang, Beginn, Ursprung“ bedeutet, in die ganz andere Sinngebung von „Herrschaft, Amt, Obrigkeit“ um (Meier-Seethaler 1988). Dies sollte suggerieren, dass ein durch Männer ausgeübtes herrschaftliches System am Anfang der Geschichte gestanden habe und daher die einzig denkbare Form von Politik sei.

      Hier zeigt sich das Problem des Evolutionsbegriffs gängiger Zivilisationstheorien. Die übliche Ansicht lautet, es habe eine stetige zivilisatorische Höherentwicklung gegeben. Das alte Ägypten und das antike Griechenland gelten als „Wiege der Zivilisation“ (z.B. Rifkin 2010), als habe es vorher keine Kultur gegeben und als sei alle Entwicklung ab diesem Zeitpunkt als Fortschritt zu verstehen. Dieses Denken bezeichnet nur Kulturen, die über eine Schrift verfügen, als „Hochkulturen“ und wertet damit die vorhergehende friedliche neolithische Zeit als „primitiv“ ab. Bis heute werden nichtpatrilinear lebende Gesellschaften als „Naturvölker“ bezeichnet.

      [34] Damit blendet die Geschichtsschreibung alle auf mündlichen Überlieferungen basierende Kulturen aus. Zeichnungen, Ritzungen, Darstellungen in der Kunst, in Haushaltswaren, der Töpferei sowie der Architektur werden in ihrer Bedeutung zurückgedrängt. Dies betrifft zum Beispiel alle indigenen Kulturen Amerikas, die nicht über schriftliche Überlieferungen verfügen. Schon Mellaart (1975) stellte fest, dass die Schrift allein nicht ausschlaggebend für die Schaffung von Kultur und Zivilisation sei. Die Schriftlosigkeit der nordamerikanischen Wabanaki14 begründet sich darin, dass der spirituelle Gehalt, der in der gesprochenen Sprache vorhanden ist, durch die Verschriftlichung verlorengehe15. Deshalb geben sie historisch der mündlichen Tradition den Vorzug. Bei der Kolonisation der Amerikas war dies für die europäischen ImmigrantInnen mit ein Grund, sie als „primitiv“ zu bezeichnen und zur Beherrschung und Vernichtung freizugeben.

      Wie sieht nun die matrilineare Familien- bzw. Clanstruktur aus? Größtenteils beziehe ich mich in meinen Ausführungen auf Heide Göttner-Abendroth (2012), die Modelle der sozialen Organisation matrilinear organisierter Gesellschaften erarbeitet hat. Ihr Grundprinzip ist die Orientierung an der Mutterlinie, die sich um die Clanmutter zentriert. In matrilinearen Familien leben Mütter, Geschwister und Kinder zusammen oder in unmittelbarer Nähe. Der mütterliche Name wird von Generation zu Generation weitergegeben. Familie bedeutet Verwandtschaft über die Mutter, nicht über Heirat oder einen Vater.

      Matriarchat ist eine Meta-Struktur auf den Ebenen der Ökonomie, der Politik, der Religion und der sozialen Ordnung (Göttner-Abendroth 2000). Die ökonomischen Muster matriarchaler Gesellschaften sind: Subsistenzwirtschaft, die meistens, aber nicht immer, auf Garten- oder Ackerbau beruht; Land und Häuser sind im Gemeinschaftseigentum des Clans, Privatbesitz ist unbekannt. Die sozialen Muster matriarchaler Gesellschaften umfassen die Bildung von Clans, die durch Matrilinearität und Matrilokalität zusammengehalten werden. Sie zeichnen sich durch große sexuelle Freiheit für beide Geschlechter aus. Die soziale Vaterschaft des Mannes bezieht sich auf die Kinder seiner Schwester und nicht auf die biologische Abstammung.

      [35] Das Zusammenleben kann sich in einem großen Clanhaus – wie bei den Minangkabau auf Sumatra – gestalten oder es werden kleine Häuser an das Mutterhaus angebaut oder in unmittelbarer Nähe errichtet. Wesentlich ist also die zentrale Stellung eines familialen Haushalts, der den Rückhalt für alle erwachsenen Mitglieder darstellt und Ort der Sicherheit sowie der Erziehung der Kinder ist. Die ökonomische Versorgung wird durch den Familienclan gewährleistet. Zum Clan der IrokesInnen (Mann 2009) können Tausende von Menschen gehören, die ein weit verzweigtes Verwandtschaftssystem umfassen. Matrilinearität bedeutet das Zusammenleben einer Familie, die sich auf die gemeinsame Mutter stützt, die Kinder erhalten alle den Namen dieses Mutterhauses oder, wie bei den Khasi Indiens, erhält der gesamte Clan den Namen der Vorfahrin, von der alle gemeinsam abstammen.

      Auch auf der politischen Ebene ist die Verwandtschaftsbeziehung bestimmend. Auf der Ebene des Hauses/der Familie werden Entscheidungen durch gemeinsame Konsensfindung gefällt. Auf der Ebene des Dorfes treffen sich bestimmte Delegierte der Familien, die sich miteinander austauschen und im Anschluss solange zwischen dem Dorfrat und dem Clanrat verhandeln, bis ein Konsens gefunden ist. So wird auch auf der Ebene der Region verfahren. Patriarchale Hierarchien können auf diese Weise nicht entstehen. Männer sind Delegierte des Clans in wichtigen Rollen; „Chiefs“ oder Könige sind Kommunikations-, und keine Entscheidungsträger.

      Diese Matriarchate leben zumeist zurückgezogen innerhalb patriarchal organisierter Staaten. Viele von ihnen sind den Patriarchalisierungsbestrebungen der sie umgebenden Gesellschaften ausgesetzt. Dies geschieht auf ökonomischer Ebene, indem das Gemeinschaftseigentum abgeschafft werden soll. Auch der Tourismus spielt eine große Rolle. Durch neue Transportbedingungen werden Orte erschlossen, die bisher unzugänglich waren. Sie bringen Werte mit sich, die die gewachsenen Strukturen nachhaltig verändern. Auf religiöser und politischer Ebene versuchen Missionare und Politiker die matrilineare Struktur durch Einführung von Ehe- und Familienrecht außer Kraft zu setzen.

      Die geschilderten Gesellschaften leben seit Jahrhunderten bis Jahrtausenden im matrilinearen Verband und sie stehen im Gegensatz zum „patriarchalen Irrtum“, wenn davon ausgegangen wird, dass es in der Frühzeit kaum „empathisches Bewusstsein“ (Rifkin 2010) gegeben habe. Das übliche Verständnis von Zivilisation nimmt an, dass der Preis für jegliche „Höherentwicklung“ Zerstörung, also Kriege und Unterwerfung, sei. Und es nimmt an, [36] dass das „Neue“, die „Moderne“ immer besser sei als das „Alte“, „Unmoderne“.

      Die Kritische Patriarchatstheorie

      Die Zweite Frauenbewegung benannte zwar die fundamentalen Probleme im Geschlechterverhältnis, konnte aber keinen radikalen Wandel herbeiführen. Um zu verstehen, warum die „Frauenfrage“ nicht gelöst wird, sondern sich ganz im Gegenteil die Lage der Frauen verschlechtert, ist es nötig, neue analytische Hilfsmittel zu entwickeln. Die akademische Forschung trägt dazu bei, dass wissenschaftliche Fragestellungen meist unzulänglich bleiben. In Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaft werden Studien zur Familie im Zusammenhang mit der Vereinbarkeitsfrage durchgeführt (z.B. Rille-Pfeiffer et al 2007a), aus pädagogischer und therapeutischer Sicht oder zu Fragen der Funktionalität von Familie. Diese Ansätze sind meistens deskriptiv, entstammen einer einzelnen Disziplin und sind unpolitisch.16 Es fehlt hier nicht nur der umfassende, also interdisziplinäre Blick, sondern auch die Erkenntnis, dass die Familie unter bestimmten Zwängen steht und untersucht werden muss, welchen politischen und ökonomischen Interessen sie dient.

      Die Abwesenheit adäquater Antworten in feministischer und politischer Theorie führte zur Entwicklung der Kritischen Patriarchatstheorie (KPT) durch die Innsbrucker Schule17, die frühere feministische theoretische Entwicklungen der späten 1970er-Jahre weiterentwickelt und systematisiert. Ziel ist eine systemische Meta-Theorie (Werlhof 2015, Projektgruppe 2009), durch die Zivilisation in allen ihren Dimensionen begriffen werden kann. Indem man ihre analytischen Werkzeuge anwendet, zeigt sich, dass Politik und Ökonomie auf die dauerhafte Zerstörung der existierenden Natur und der Menschen selbst zugunsten einer angeblich besseren künstlichen Neuschöpfung aufbauen. Die KPT erklärt auch, woher die Wahnidee einer sogenannten „modernen und progressiven“ Welt kommt, wo doch der sogenannte „Fortschritt“

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