Black and Blue. Wolfram Knauer

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Black and Blue - Wolfram Knauer

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ein gutes Beispiel dafür, wie solche Breaks aus der Improvisation heraus geboren wurden. Vor allem kann man sich in ›Weatherbird‹ gut vorstellen, wie sehr das Publikum nach solchen Breaks getobt haben wird – sie sind nicht etwa zirzensische Kunststücke, sondern dramaturgische Höhepunkte eines musikalischen Ablaufs, der von Beginn bis Schluss geplant ist und im kollektiven Erspielen des Stücks immer neue Wandlungen und Steigerungen erfährt.

      Neben solchen aus der Improvisation heraus geborenen Duo-Breaks gibt es übrigens auch zahlreiche, die offenbar auf Vorabsprachen basierten, quasi Teil des Arrangements waren, wie sich nachweisen lässt, wenn man die verschiedenen Aufnahmen der Stücke vergleicht, etwa in ›Sweet Lovin’ Man‹, ›Where Did You Stay Last Night? ‹, ›Sobbin’ Blues‹, ›Alligator Hop‹, ›Working Man Blues‹, ›Camp Meeting Blues‹, ›The Southern Stomps‹ oder dem ›Riverside Blues‹.

      Ein kurioses Beispiel findet sich in ›I Ain’t Gonna Tell Nobody‹, aufgenommen im Oktober 1923. Es handelt sich um einen Titel, der in seiner Schmissigkeit sicher auf dem Tanzparkett gut ankam, in dem Armstrong allerdings nicht sonderlich zur Wirkung kommt. Im drittletzten Chorus jedenfalls findet sich ein weiteres Beispiel eines Duo-Breaks: Etwa bei 2: 12 Minuten hört man Oliver eine Phrase hervorheben, die gleich darauf zweimal als Duo-Break erklingt. Im vorletzten Chorus ist offenbar ein ähnlicher doppelter Duo-Break geplant, aber beim ersten der beiden (etwa bei 2: 40) ist nur ein Kornett zu hören, und statt Olivers Stimme wie zuvor in Terzparallelen zu spielen, nimmt Armstrong sie beim zweiten Break gleich danach im Unisono. Was da genau passiert war, darüber kann man nur spekulieren: Hatte Armstrong den ersten Break verpasst und wollte im zweiten auf Nummer sicher gehen, wie Brian Harker vermutet?49 Oder war das, was uns beim genauen Hinhören wie ein Fehler erscheint, für die Musiker der Creole Jazz Band gar nicht so schlimm, weil sie eh aus einer improvisatorischen Haltung heraus musizierten, in der es, sofern der Drive des Rests stimmte, auf solche Details nicht ankam?

      Man denkt gerade beim frühen Jazz oft an Musiker, die vor allem improvisierten und keine Notenvorlagen benötigten. Und tatsächlich ist die Fähigkeit zum improvisatorischen Umgang mit dem musikalischen Material grundlegende Voraussetzung für diese Art von Musik. Doch auch die frühen Jazzmusiker waren nicht einfach »Naturbegabungen«, auch sie waren professionelle Musiker, und neben improvisatorischen Fähigkeiten gehörte zu ihrem Handwerkszeug auch die Fähigkeit, Noten lesen zu können. Olivers Band war gewiss kein »Brillenorchester«, seine Creole Jazz Band nutzte Notenvorlagen meistens nur als Erinnerungsstütze. Wenn es aber Noten gab, dann hatte Oliver dafür gesorgt, dass die Titel der Stücke nicht zu lesen waren, damit andere Musiker im Publikum ihm nichts abschauen konnten. Um der Band klarzumachen, welches Stück als nächstes drankam, spielte er einfach den Beginn, und der Rest stimmte ein.50 Während des Stückes gab er durch Fußstampfen Signale, etwa, um einen Break oder einen weiteren Chorus einzuzählen.51 In New Orleans hatte Oliver auf beides Wert gelegt: das Notenlesen genauso wie die Fähigkeit zu improvisieren. In der Creole Jazz Band war Johnny Dodds, heißt es, ein mäßiger Notist mit exzellentem Gedächtnis, und von Honore Dutrey ist überliefert, dass er schon mal Cello-Parts von populären Schlagern zur Hilfe nahm, wenn es keine Posaunenstimmen gab. Der Musikwissenschaftler Lawrence Gushee vermutet, dass etwa ›Sweet Lovin’ Man‹ oder zumindest die Posaunenstimme in ›Jazzin’ Babies Blues‹ (beide vom Juni 1923) von Noten gespielt wurden.52

      Tatsächlich gibt es zwischen »improvisiert« und »notiert« allerdings eine Reihe an Zwischenstufen. Im Jazz spricht man beispielsweise von »Head Arrangements«, wenn Arrangements nicht niedergeschrieben, sondern von den Musikern so verinnerlicht werden, dass sie auch ohne Noten den gleichen Ablauf, die gleichen Stimmen spielen. Solche Head Arrangements sind insbesondere in den blueslastigen Bigband-Arrangements etwa des Orchesters von Count Basie in den späten 1930er, frühen 1940er Jahren üblich gewesen, in dem sich ursprünglich improvisatorisch erfundene Riffs in der Erinnerung der Musiker zu Head Arrangements verfestigten. Nicht anders wird es bei Oliver gewesen sein, dessen Band ihr Repertoire ja bereits seit zwei Jahren Abend für Abend im Lincoln Gardens gefestigt hatte – da bedurfte es für die Plattenaufnahme keiner Niederschrift, sondern allerhöchstens einer klaren Absprache, was die Länge und den genauen Ablauf der Einspielung betraf.

      Solche Head Arrangements also entstanden in der Absprache zwischen den Bandmitgliedern. Man kann sich das ganz bildlich vorstellen: Armstrong oder Oliver bringen ein Thema mit, sagen den Musikern, wie sie sich den Ablauf etwa vorstellen.

      Lass uns alle zusammen anfangen, eine Einleitung, zweimal das erste und zweimal das zweite Thema. Lasst uns im B-Teil Breaks einbauen, und zwar jeweils zum Ende der beiden Achttakter, also in Takt 7 und 8 sowie 15 und 16. Dann kommt ein Kornettsolo über das zweite Thema. Noch einmal das erste Thema und schließlich eine kurze Coda.

      Wer immer das Stück mitbrachte, spielte die Melodie auf seinem Instrument vor. Die anderen Bläser probierten verschiedene Melodien aus, die darüber oder darunter passten. Dann gab es einen ersten Durchgang. Man diskutierte den Verlauf, mögliche melodische oder harmonische Alternativen. Man hörte aufeinander und sprach darüber, damit man sich bei all dem kollektiven Zusammenspiel nicht in die Quere kam. Am Ende der Probe stand ein Grundgerüst des Stücks, das in den nächsten Tagen noch verfeinert, aber im Großen und Ganzen nicht mehr abgeändert wurde.

      Hört man sich insbesondere die Titel an, von denen es mehr als eine Aufnahme gibt, dann wird das Prozedere schnell deutlich: Einige der Stimmen scheinen identisch zu sein, und die berühmten Duo-Breaks von Armstrong und Oliver sind klar vorab geplant. Man findet teilweise notengetreue Übereinstimmungen in quasi allen Bläserstimmen, und zwar auch in Partien, die im ersten Höreindruck völlig improvisiert scheinen. Die Übergänge zwischen Komposition, Head Arrangement und Improvisation sind also tatsächlich fließend. Die wirkliche Improvisation betrifft oft nur Kleinigkeiten, Verzierungen, Variationen, Details, nicht aber den Formablauf als solchen.

      Auf der Bühne war die Situation übrigens eine komplett andere. Im ›Tiger Rag‹ etwa oder im ›Dippermouth Blues‹ habe es, wird berichtet, bei Konzerten schon mal elf oder zwölf Solochorusse gegeben.53 Der Trompeter Wild Bill Davison erzählt, er habe Oliver und Armstrong 125 Chorusse über den ›Tiger Rag‹ spielen hören.54 Und Preston Jackson weiß von 50 Chorussen mit unzähligen hohen Cs und am Ende dem F darüber.55 Der Schlagzeuger George Wettling erinnert sich an ein fünfundvierzigminütiges ›High Society‹, doch mag ihm da die Erinnerung vielleicht doch einen Streich gespielt haben.56 Auf jeden Fall stand dort nirgends ein Tontechniker, der bei etwa 2:45 Minuten ein Zeichen gab, damit die Musiker wussten, dass sie zum Schluss kommen mussten. Im Konzert war es möglich, noch einen Chorus dranzuhängen. Und in New Orleans spielte man gewiss auch tagesaktuelle Schlager länger als drei Minuten. Von 1951 stammt etwa eine Dokumentaraufnahme der Eureka Brass Band, in der sie George Gershwins ›Lady Be Good‹ fast zehn Minuten lang interpretiert. Das ist nicht unbedingt die ganze Zeit über musikalisch interessant, macht aber anschaulich, dass im täglichen Geschäft des Musikmachens die Längenvorgaben der Schellackplatte kaum eine Rolle spielten. Armstrong selbst erzählt: »Wir haben die Stücke quasi auf der Arbeit geprobt und mussten sie dann für die Aufnahme nur noch auf die richtige Zeit zurechtschneiden. Dann war es gar kein Problem, diese Aufnahmen zu machen.«57

      Olivers Glanzstück der ersten Aufnahmesitzung ist der ›Dippermouth Blues‹, ein Stück von Armstrong, dessen Titel auf seinen Spitznamen »Dippermouth«, »Schöpfkellenmund«, anspielt, den er wegen seines kraftvollen Tons erhalten hatte. Oliver spielt ein emotionales Solo, in dem er die Dämpfertechniken benutzt, für die er weithin bekannt war. Für Oliver habe man die Dämpfer erfunden, sollte Jelly Roll Morton später loben. Er setzte dazu nicht nur verschiedene Dämpfer vom Abflusspümpel bis zum Kindersandförmchen ein, sondern auch die effektvolle »wa-wa«-Technik, bei

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