Black and Blue. Wolfram Knauer

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Black and Blue - Wolfram Knauer

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so sehr melodische Erfindungsgabe als vielmehr ein trefflich ausbalanciertes Spiel hinsichtlich Rhythmik, Timing, Dynamik und Sound. Dieses Solo wurde von vielen Trompetern seiner Zeit bewundert und Note für Note nachgespielt.

      Die Aufnahmesitzung aber enthält auch die ersten Soli des jungen Louis Armstrong. Im ›Chimes Blues‹ spielt er ein kraftvolles Solo, das aus nicht mehr als einer Melodiephrase besteht, die er den Harmonien entsprechend sequenziert. Das Ganze ist offenbar ziemlich genau geplant, und so wurde später gemutmaßt, Oliver selbst habe das Solo konzipiert und Armstrong zugewiesen, allerdings hört man insbesondere in der Schlussphrase die improvisatorische Energie, mit der Armstrong am liebsten aus dem festen Melodieschema ausbrechen und das Ganze rhythmisch und harmonisch anreichern möchte.

      Es wird oft und gern darauf hingewiesen, dass Armstrong aus der kollektiven Faktur des New-Orleans-Ensembles eine Solokunst geschaffen habe, dass er (zusammen mit Bechet und wenigen anderen) der erste große Solist des Jazz gewesen sei. Das ist sicher richtig, und doch sollte man nicht vergessen, dass er diese solistische Meisterschaft aus dem Geist des Kollektivs im New Orleans Jazz heraus entwickelt hatte, aus dem Wissen um die harmonischen Funktionen in der Band, um die Bedeutung der Stimmen im Vokalquartett. Der Autor Thomas Brothers hat das treffend umschrieben: Armstrong habe »die Kraft und den Reichtum kollektiver Improvisation in einer einzigen Linie« zusammengefasst.58 Man hört das bereits in einigen seiner frühen Soli, im ›Chimes Blues‹ mit Oliver etwa, in dem er Melodie- und Harmoniestimme quasi nacheinander spielt, im Vertrauen darauf, dass die Harmoniestimme im Gedächtnis des Hörers die Melodiestimme ergänzt. Wer Armstrongs Musik einzig als intuitiv erzieltes Ergebnis eines natürlichen Talents beschreibt, tut ihm nämlich Unrecht. Zur Kunst gehörte auch bei Armstrong das Wissen um Stimmführung, um harmonische Spannung, um Kadenzen und um die Wirkung von Dissonanzen und ihrer Auflösung. Armstrong mag kein Musiktheoretiker gewesen sein, aber er wusste genau, wie er all solche Techniken einzusetzen hatte, um die besten Effekte zu erzielen. Wie er das alles gelernt habe, fragte ihn Richard Hadlock später, und Armstrongs Antwort lautete: »Ich denke, Singen und Spielen ist dasselbe.«59 Er wusste genau, was er dem Vokalquartett seiner Jugend zu verdanken hatte. Er selbst hätte seine Spielweise nie als »analytisch fundiert« beschrieben, aber ein Chorus wie jener über den ›Chimes Blues‹ von 1923 ist anders als durch ein analytisches Bewusstsein für den musikalischen Prozess gar nicht zu erklären.

      Am eindrucksvollsten aber ist Armstrong in ›Froggie Moore‹, einer Aufnahme, in der deutlich wird, wohin seine Reise gehen wird. Armstrong zeigt hier ein neues, von Oliver klar abweichendes rhythmisches Konzept. Er geht weit freier mit der Melodie um, nutzt Ansatz, Attack und vor allem auch das Vibrato seiner Tongebung, um das Solo zum Swingen zu bringen. Wer immer damals diese Aufnahmen hörte, muss sich bewusst gewesen sein, dass da ein Musiker heranreifte, der in eine ganz andere Richtung zielte als die doch sehr Ensemble-orientierte Musik seiner Kollegen: auf eine Musik, in der das Ganze, also die Bandleistung, genauso wie das Einzelne, das Solo der Musiker, einem dramaturgischen Gesamtziel unterlagen.

      Armstrong betonte sein ganzes Leben lang, wie stark King Oliver ihn beeinflusst habe. Die Dämpfertechnik aber beispielsweise, für die Oliver so bekannt war, fand, von wenigen frühen Ausnahmen abgesehen (Bessie Smith’s ›Reckless Blues‹ vom Januar 1925 beispielsweise), nie wirklich ihren Weg in Armstrongs Spiel. Er variierte weniger den Sound als vielmehr die Melodie.

      Armstrongs Präsenz in der Band blieb nicht ohne Folgen – auch für Oliver. Der Ältere war zwar der King, aber in den 1923 dokumentierten Aufnahmen hört man auch, dass er dem Neuen gegenüber, das Armstrong da mitbrachte, durchaus aufgeschlossen war. In ›Mabel’s Dream‹ beispielsweise, eingespielt im September 1923, spielt Oliver drei Solo-Chorusse. Jeder Chorus baut auf den davor gespielten auf, bringt etwas mehr insbesondere an rhythmischer Komplexität ins Spiel, gerät etwas stärker ins Swingen. Und während er in den beiden ersten Chorussen doch sehr nah am Thema bleibt, löst sich Oliver im letzten Chorus, in dem er darüber hinaus zum Dämpfer greift, fast auch melodisch vom Thema und färbt alles in Sound, Rhythmik und Melodik ein. Zwei Takes existieren von dieser Aufnahme, und es wird recht deutlich, wie stark sich Oliver allein in dem Dreivierteljahr, in dem die Band in Aufnahmen dokumentiert ist, durch Armstrong hat beeinflussen lassen. Übrigens gibt es noch eine dritte Aufnahme dieser Nummer vom Oktober 1923, in der Armstrongs Zweitstimme während des Oliver-Solos weitaus deutlicher zu hören ist.

      ›Where Did You Stay Last Night‹ hatte Armstrong unter dem Titel ›Wind and Grind‹ bereits in New Orleans für die Band Kid Orys verfasst. In den beiden Fassungen des ›Riverside Blues‹ ist es interessant auf die Solostimme Armstrongs zu horchen. Seine Töne sitzen nicht auf dem Beat, auch nicht synkopierend dazwischen, sondern bilden leicht vom Beat abweichende Akzente, eine Spielweise, die man gemeinhin als Off-Beat-Phrasierung bezeichnet.

      Vom Oktober 1923 schließlich stammt eine Aufnahme des ›Camp Meeting Blues‹, die aus anderem Grund jazzgeschichtlich interessant ist. Das dritte Thema des Stücks nämlich entspricht ziemlich exakt dem Thema von Duke Ellingtons ›Creole Love Call‹ von 1927. King Oliver war empört und schrieb im Oktober 1928, ein Jahr nach der ersten Aufnahme des ›Creole Love Call‹ einen Brief an die Rechtsabteilung der Plattenfirma Victor, in dem er darauf hinwies, »dass diese Nummer von mir geschrieben wurde und am 11. Okt. 1923, Nr. 570230, unter dem Titel Camp Meeting Blues zum Urheberrecht angemeldet wurde«. Oliver bekam mit seiner berechtigten Klage wegen eines simplen Formfehlers kein Recht: Die von ihm genannte Nummer der Urheberrechtsanmeldung gehörte tatsächlich zu seinem ›Temptation Blues‹; den ›Camp Meeting Blues‹ hatte er wahrscheinlich vergessen zu registrieren.

      Die Band war verständlicherweise stolz auf die von ihr eingespielten Schallplatten, und sie machte kräftig Werbung – etwa bei Straßenumzügen durch Chicago, bei denen die Band spielte und ein großes Transparent für den ›Dippermouth Blues‹ warb.60 Die Band besaß eigentlich ein großes Repertoire, hätte, wie der Schlagzeuger Baby Dodds bezeugt, ohne Probleme fünf Stunden am Stück spielen können, ohne einen Titel wiederholen zu müssen. Nach dem Beginn ihrer Plattenkarriere allerdings schränkten die Musiker das Repertoire marktgerecht ein, zum einen, weil sie auf diese Weise ihre neuen Platten promoten wollten, zum anderen, weil das Publikum eben genau nach den aufgenommenen Titeln verlangte. Viele der Stücke, die Oliver 1923 einspielte, sind Eigenkompositionen; im Lincoln Gardens mussten sie darüber hinaus sicher auch jede Menge an tagesaktuellen Schlagern spielen.

      Oliver machte nicht nur für Gennett Aufnahmen, sondern auch für andere Plattenfirmen. Die ›Dippermouth Blues‹-Straßen-Bewerbung beispielsweise galt nicht der Gennett-Aufnahme vom April 1923, sondern einer Aufnahme für das Label OKeh vom 23. Juni. Es war nicht unüblich, dass Künstler für mehrere Plattenfirmen dieselben Stücke einspielten. Exklusive Plattenverträge, mit denen Künstler an ein Label gebunden werden sollten, wurden erst später üblich. Neben OKeh und Gennett kam im Oktober noch Columbia und im Dezember das Label Paramount hinzu. Diese parallele Vermarktung bot den Musikern vor allem die Chance, mehr Platten zu verkaufen und damit mehr Geld zu verdienen. Als heutige Hörer haben wir dadurch aber auch die reizvolle Gelegenheit, Stücke in mehreren Varianten zu hören, aufgenommen in unterschiedlichen Studios und unter verschiedenen Sound- und Aufnahmebedingungen. Am ausgewogensten wirken die Aufnahmen für das OKeh-Label im Juni und Oktober; in ihnen hatte der Toningenieur auch keine Probleme, den Klang des Schlagzeugs einzufangen – der Schrecken aller Toningenieure dieser frühen Zeit. Im OKeh-›Dippermouth Blues‹ jedenfalls erahnt man auch Baby Dodds’ Tom-Toms, und im OKeh-›

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