Wie man glücklich wird und dabei die Welt rettet. Holger Dr. phil. Wohlfahrt
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Dem schlauen und verschlagenen König Sisyphos war es demnach immer wieder gelungen, den Todesgott Thanatos, der ihn ins Reich des Todes holen wollte, auszutricksen und sich somit am Leben zu halten. Da beschlossen die Götter eines Tages, sich nicht länger von Sisyphos an der Nase herumführen zu lassen und ihn zu bestrafen. Sisyphos erhielt die göttliche Anweisung, einen Felsblock auf einen Berg zu schieben. Doch sobald er den Gipfel erreichte, rollte der Stein wieder nach unten. Und so begann die unendliche Reise des Sisyphos. Immer wieder brachte er den Stein nach oben, wo dieser sofort wieder entglitt. Ein langer Abstieg begann, um den Stein dann wieder vergeblich nach oben zu rollen.
Heute steht der Begriff „Sisyphosaufgabe“ oder „Sisyphosarbeit“ in der Regel für eine harte Tätigkeit, die nicht nur ertraglos ist, sondern auch nie zu einem Ende kommt. Viele assoziieren mit Sisyphos daher vor allem Übel und Leid. Camus weist in seinem Essay jedoch auf einen anderen Aspekt hin. Er zeigt, dass die Erkenntnis der Sinnlosigkeit seines Tuns für Sisyphos zum Moment wahrer Selbsterkenntnis wird. Im Moment der bedingungslosen Akzeptanz, vielleicht sogar des Aufgehens in der absurden Tätigkeit, erfährt Sisyphos sich selbst. Er erkennt, wie unbedeutend sein ach so beharrliches Streben ist. Er kann somit jegliches menschliche „Sinnieren“ erleichtert einstellen und sich voll dem aktiven Tun widmen. Er hat den Sinn in der Sinnlosigkeit gefunden.
Sisyphos steht als Synonym für den Menschen als solchen. Auch dessen Tun ist laut Camus stets von Absurdität gekennzeichnet. Wenn ihn die gestellten Aufgaben nur stark genug in Anspruch nehmen, hat er gedanklich keinen Raum, die Welt, in der er lebt, als unfruchtbar oder wertlos wahrzunehmen. Er eilt mit großem Kraftaufwand einem Ziel entgegen, das er doch nie endgültig erreichen kann.
Camus beschließt seinen Essay mit der vielleicht überraschenden Feststellung: „Der Kampf gegen Gipfel (auf die Sisyphos seinen Stein immer und immer wieder rollt) vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Sisyphos hat in seinem vermeintlich sinnlosen Tun also einen Lebenssinn gefunden. Camus, der als Existentialist auch als Philosoph der Freiheit bezeichnet werden kann, macht damit deutlich, dass jeder Einzelne im Leben Sinn finden kann, wenn er für sich selbst eine Aufgabe und ein klar umrissenes Ziel ausruft. Das Ziel sollte so groß sein, dass es das Leben überragt. Sobald es definitiv erreicht wird, droht nämlich eine mentale Erstarrung einzukehren. Ernüchterung, Langeweile und innere Leere machen sich breit. Daher ist es Camus zufolge für das individuelle Glücksempfinden wichtig, unterwegs zu sein und eben nicht möglichst schnell anzukommen, wie das in der modernen westlichen Gesellschaft meist propagiert wird.
Neurobiologisch lässt sich die Freude des Unterwegsseins mit dem Dopamin erklären. Wer immer wieder ein klares Ziel vor Augen hat, sich von diesem antreiben lässt, sich vorstellt, wie schön seine Verwirklichung ist, schüttet Dopamin aus. Bei kurzfristigen, leicht umzusetzenden Zielen erschöpft sich dieses Phänomen allerdings schnell. Einem punktuellen Gefühlshoch folgt dann eine innere Leere, die möglichst schnell ein neues Hoch erleben will. Um jedoch das gleiche Gefühl wieder zu haben, muss in der Regel schon bald die Dosis erhöht werden. Eine fremdbestimmte und letztlich auch hilflose Abhängigkeit entsteht.
Über ein großes, hinter allen kleinen Alltagszielen stehendes Meta-Ziel lässt sich hingegen innerhalb eines konstanten Rahmens immer wieder Vorfreude generieren. Die ernüchternde Leere und der Wunsch nach mehr, die sich bei jeder Zielerfüllung irgendwann einstellen, bleiben hingegen aus. Natürlich sollte es dennoch zumindest theoretisch im Bereich des Möglichen liegen, das Ziel in ferner Zukunft zu erreichen. Auch kleine Zwischenerfolge sollten auf dem schier endlosen Weg durchaus gefeiert werden. Andernfalls nützt sich der Effekt ab. Irgendwann würde sonst der Glaube an die Erreichbarkeit verloren gehen und Ernüchterung würde die motivierende Vorfreude ablösen.
Zweifelsohne stellte es einst einen Überlebensvorteil dar, dass die Gattung Homo Sapiens in einem evolutionären Urzustand nachgerade Glücksgefühle empfand, wenn sie sich auf den Weg hin zu neuen und besseren Anbau- und Jagdplätzen machte. Heute wird allzu oft vergessen, dass der Mensch in seiner Geschichte überwiegend ein Nomade war. Die Aussicht auf ein sichereres und besseres Überleben dürfte ihn über Jahrtausende angetrieben haben und vielleicht auch ein Grund dafür sein, dass es ihm im Laufe der Evolution gelang, die grausame Herrschaft über die Welt und ihre anderen Bewohner zu erlangen. Das ständige Weiterziehen, das niemals definitive Ankommen kann somit gewissermaßen als Menschheits-Sinn betrachtet werden.
Tatsächlich leitet sich auch das Wort „Sinn“ vom althochdeutschen „sinnan“ ab, was etwa mit „reisen“ oder auch „streben nach“ übersetzt werden kann. Wer sich Sinn gibt, ist also – dem Wortsinn nach – unterwegs. Er reist seinem individuellen Ziel entgegen. Das Ankommen kann den Sinn geradezu zerstören. So verwundert es nicht, dass viele Menschen, die nichts als materiellen Wohlstand erstreben, im Moment ihres „Ankommens“, den erlangten Reichtum als sinn-entleert empfinden. Besonders häufig ist dieses Phänomen wenn der Reichtum unabhängig von einer zielorientierten Tätigkeit gewonnen wird – zum Beispiel durch eine Erbschaft oder einen Lottogewinn. Bertrand Russell erklärte dieses Phänomen folgendermaßen: „Das menschliche Tier ist gleich anderen Tieren auf ein gewisses Maß von Daseinskampf eingerichtet, und wenn jemand so reich ist, dass er all seinen Launen mühelos nachgeben kann, beraubt ihn das bloße Fehlen jeder Anstrengung eines wesentlichen Glückselements.“
Der Prototyp des irgendwie angekommenen, aber umso unglücklicheren Menschen, der sich verzweifelt in wilde, aber letztlich existentiell öde Partys mit Seinesgleichen stürzt oder eine leere Sinnsuche beginnt, ist nicht umsonst wiederkehrendes Thema in Film und Literatur von Orson Welles „Citizen Kane“ über Federico Fellinis „La Dolce Vita“ bis zu Paolo Sorrentinos „La Grande Bellezza“, von Apuleius „Goldenem Esel“ über Georg Büchners „Leonce und Lena“ bis hin zu Scott F. Fitzgeralds „Großem Gatsby“.
Besonders drastisch wird die negative Begleiterscheinung des Ankommens in den mittelalterlichen Artus-Sagen dargestellt. Das Gefühl des vorschnellen Angekommen-Seins wird dort zur Lebensgefahr. Zahllose Ritter reiten voller Tatendrang in britannische Wälder. Sie wollen und sollen Drachen jagen oder Jungfrauen befreien. Doch nur allzu oft werden sie im Wald von einer Maid abgefangen, die ihnen einredet, bereits am Ziel zu sein. Sobald ihr ein Ritter Glauben schenkt, vom Pferde steigt, sich zu ihr begibt und freudig am Ziel wähnt, schläft er in ihren Armen ein und wacht nie wieder auf. Nur wer sich der vorschnellen Ankunft verweigert, wer weiter einem fernen Ziel entgegenreitet, kann weiterleben. Alle anderen sterben einen sanften Tod.
Wie realistisch die mythischen Sagen in dieser Hinsicht sind, beweist eine im Jahr 2009 veröffentlichte Studie von Medizinern der Rush University in Chicago. Darin wurden 1238 ältere Leute aus dem Großraum Chicago untersucht. Diejenigen, die keine Lebensziele mehr benennen konnten, hatten in den folgenden fünf Jahren ein doppelt so hohes Risiko zu sterben. Ihnen fehlten Lebensfreude und Antrieb. Der sanfte Tod der mythischen Artus-Ritter wurde bei jenen Senioren aus Chicago zur Realität.
Dass Ziele für ein glückliches Leben unerlässlich sind, wurde zeitlebens auch von dem Begründer der Logotherapie, dem Psychiater und Neurologen Victor Frankl (1905-1997), Überlebender des KZ Auschwitz, thematisiert. Er hat jenen eindrücklichen Satz geprägt: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“3 Wer also ein individuelles Ziel und eine daran orientierte Aufgabe hat, der erträgt auch jede Widrigkeit des Lebens. Nichts und niemand kann die zentrale Motivation des eigenen Tuns überlagern.
Sisyphos hatte sein Warum gefunden. Es bestand darin, den Stein immer und immer wieder auf den Berg zu rollen. Die Ritter der Artus-Sage hatten ihre Abenteuer zu bewältigen. Jede vorschnelle Ankunft galt es dabei zu vermeiden, wollten sie (emotional) überleben und nicht in