Krampenfieber – Im Fangarm der Pimperbrille. Tobie Schmack

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Krampenfieber – Im Fangarm der Pimperbrille - Tobie Schmack

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      »Also, was tun und nicht klauen?«, sinniere ich laut in die Kühle des Wohnzimmers.

      Und dann? Es gibt Momente, da schaut man sich an und weiß eine Hundertstel später, was zu tun ist. Wir wissen und wir tun. Mein Vater wäre in diesem Augenblick ohne Zweifel stolz auf mich, einfach nur, weil die Entscheidung steht.

      GROUND ZERO

      »Prost, du alter Sack. Auf dich!«, sage ich adrenalinbesoffen zu Tacko.

      »Auf jeden!«, grölt er – sanft wie ein großer Bruder, den ich niemals hatte – zurück.

      Mit festem Griff hebt sich das Bier und fließt erwartungsvoll erfrischend in meinen Rachen. Nein, das Hausbräu hier im Spikes kann erleichternder nicht schmecken. Kaum zu glauben, aber es ist gerade einmal schlappe zwei Stunden her, dass Meier nach erfolgreicher Wiederinstallation des Türschlosses mit ’nem Hunni im Blaumann die Abreise angetreten hat. Gemäß unseres Plans wurde die Tür anschließend von Tacko CSI-gesichert, fachmännisch eingetreten, die Polizei verständigt und natürlich die Versicherung informiert. Die Dame am anderen Ende der Leitung war sichtlich bemüht, mich in der von mir – wie ich meine – vortrefflich vorgegaukelten Verzweiflung zu trösten. Drei Jahre Schultheater waren eben doch nicht umsonst. Danke, Frau Mehlich! Zugegeben, dass ich auch die abgelaufene Bio-Milch mit satten drei Komma acht Prozent Fett auf die Verlustliste setzen wollte, war übertrieben. Aber hey, gestohlen ist gestohlen und lässt sich wieder holen. Da wird auch nicht geschludert. Sagen wir es so, ich war die ganze Zeit neben der Spur und Zuschauer eines merkwürdigen Films, an dessen Ende hoffentlich die Zusage leuchtet, dass der entstandene Schaden irgendwie übernommen wird.

      »Alter! Keen Kopp! Die Brüder zahlen immer! Immer!«

      Woher Tacko seine Zuversicht nimmt, ist mir schleierhaft. Und so wandert mein schweigender Blick vom sich allmählich leerenden Bierhumpen über Tackos überwältigendes Grinsen nach oben und ich spüre, wie der Alkohol den Stress aus dem Nacken spült.

      Die Partyleuchten an der Decke haben sicher schon bessere Zeiten gesehen. Alles wirkt auch jetzt noch wie kurz nach ’89 renoviert und dann gründlich durch Zigarettenrauch konserviert. Die Scheiben waren schon immer mit schwarzer Folie abgedunkelt. Und das ist auch gut so! Wer wollte schon rausgucken? Immerhin, hier drin ging’s ab. Jeden Freitag gab’s hier NDW auf die Ohren und die Wodka-Cola, die nur palettenweise verhökert wurde, für neunundneunzig Cent in die Backen. So auch hier und jetzt. Mit Blick auf eine Truppe sich motiviert abfüllender Kerle in Tarnfleckmontur gebe ich mir gerade die erbärmliche Bierpfütze aus dem mittlerweile widerwärtig ausgelebten Glas. Die Hütte ist voll. Kein Wunder! Das Konzept »Billiger Alkohol plus Achtziger-Jahre-Mucke« geht für die Masse der Unter-Dreißigjährigen auf. Ü30 hat hier Seltenheitswert, was uns garantiert, dass uns alle für die Typen vom Ordnungsamt halten. Neues Bier kriegt man dadurch aber auch nicht schneller.

      Ich habe Mandy schon gewinkt. Und doch steht mein Glas, immer noch leer, so trostlos vor mir, mit einer klebrigen Erinnerung daran, dass mal etwas Feierabendsaft in ihm gewesen ist. Die aus den einsam heruntergelaufenen Gerstentropfen gesammelte Restsuppe schlummert deprimiert am Glasboden und wartet auf einen Ortswechsel. So wie ich, obgleich ich nicht gierig geschluckt oder in der Kneipenspüle versenkt werden wollte. Als Tacko was von Steckdose faselt und rumpelnd unter dem Tisch verschwindet, frage ich mich, wie man nur so schwanzgesteuert sein kann. Dass er wirklich nur einen Stromanschluss sucht, um sein Netbook anzuschließen, muss ich nach den mir im Vertrauen erzählten Stories kategorisch ausschließen. Plötzlich taucht Mandy, die selbst nach einer Zwanzig-Stunden-Schicht rotzig heiß wirkt, vor mir auf, schiebt die Gläser auf dem Tablett zurecht und fragt lässig: »Noch mal das Gleiche, Jungs?«

      »Ja, Schnucki!«, ertönt Tackos Stimme hinter dem flackernden Spielautomaten, der mit rotierenden Nummernscheiben und elektronisch verzerrtem Gedudel was von neuer Chance klimpert.

      »Japp!«, nicke auch ich, mich selbst belügend.

      Nein, ich will nicht das Gleiche, ich will was anderes. In meinem Schädel drehen sich die Gedankenfetzen und verschwimmen wie die Ziffern vor mir.

      »Mandy!«, rufe ich ihrer noch sichtbaren Kellnerschürze hinterher. »Nein, nicht wie immer, ich nehm … ich nehm …«

      Meine Fragezeichen tanzen kurz in der pommesschwangeren Kneipenaura, um nun klirrend am Boden zu zerschellen. Sie dreht sich wieder weg und schlägt dem neben ihr aufgetauchten Suffi eiskalt auf die Grabschgriffel, die ihr gewünschtes Ziel nicht mehr erreichen. Ich hocke gänzlich neben mir. Ich muss hier raus, die ganze Nummer macht einfach keinen Sinn mehr. Das ist doch krank. Warum harren wir hier aus … hier im Osten? Seit gefühlten hundert Jahren. Aber … was will ich denn eigentlich? Hab ich mich das überhaupt schon mal gefragt? Okay, mit Delia wär alles klar. Wir würden in ein paar Jahren das Grundstück in Meckelfeld übernehmen, mit dem Haus, in dem Onkel Freddy seit dem Tod meiner Tante allein sein Dasein fristet. Leider. Leben kann man das echt nicht mehr nennen. Meckelfeld! Das war der Plan. Gut, es hat ewig gedauert, bis ich Delia auch nur ein halbes Ja zum Umzug entlocken konnte. Wenn’s nach ihrer Familie ginge, müsste sie gar nichts tun. Toll, wenn der greise Herr Papa ’ne Spedition führt und die Prinzessin einzig zu repräsentativen Zwecken mal das Firmengelände betreten soll. Aus irgendeinem Grund hat der seit ihrem vierzehnten Geburtstag, was auch immer da gelaufen ist, tierische Panik, dass sie mit einem seinem Trucker durchbrennen würde, was alles andere als dem Stand entspräche, zu dem er sich selbst zählt. Er, der aus dem Nichts kam und alles mit seiner Hände Arbeit und ein paar stadtbekannten Winkelzügen zu einem bis ins hinterste Sibirien agierende Kipperlädchen gebracht hatte. Nicht schwer zu glauben, dass ich fürs Erste, als ich auf seiner Bildfläche erschien, als beziehungstechnische Übergangslösung und bessere Notstandsbegleitung offiziell geduldet wurde. Wann immer es passte, rückte er meine familiäre Position in seinem erlesenen Dunstkreis ins einzig von korrekt interpretierte Licht. Jedes noch so belanglose Zusammentreffen mutierte binnen Sekunden zum alles entscheidenden Bewerbungsgespräch, jedes sonntägliche Kaffee-und-Kuchen-Stelldichein zum Tribunal, dem ein standesrechtliches Erschießungskommando folgen müsste. Was immer ich vorher zu sein glaubte, danach wusste ich, dass ich nichts wusste. Würde mich heute jemand aus dem Schlaf reißen, ich könnte Unmengen Bibelpsalme aus meinem Unterbewusstsein leiern, als gäb’s kein Morgen, und in jeder drittklassigen Popelprovinz den Stadtführer mitsamt allerlei übernützlichen Anekdoten mimen. Hauptsache, man hat immer was zu babbeln und zu präsentieren. Es hätte manches Mal nicht viel gefehlt und ich wäre an Übermissionierung verreckt. Er konnte alles, er kannte alles und hatte alles, sogar für jeden Anlass das passende Parteibuch. Matrosen, wechselt die Fahne, der Wind hat gedreht! Mit jedem Bissen, mit jedem Schluck Kaffee schrie es in mir nach Flucht. Auf ins gelobte Land ohne Vaterbrust. Ja, selbst diese stillende Rolle riss ihr werter Herr erzählerisch irgendwann an sich, auch wenn ich mir das nicht vorstellen mochte. Nein, nein, nein! Delia und ich, wir beide in Meckelfeld. Wir hätten eine Chance auf eine eigene Zukunft. Das ganz sichere Ding für uns im Hamburger Speckgürtel. Hätten, hätten, hätten! Tja! Aber warum eigentlich nur zu zweit? Nieder mit der Pärchenkacke! Mann, das ginge doch auch ohne sie. Dort könnte ich locker einen Job in Freddys Firma bekommen, obwohl ich mit Fliesenlegen – geschweige denn handwerklicher Schaffenskraft – nun wirklich noch nie etwas am Hut hatte. Und wenn schon! Dann steige ich bei der Windkraftbude von Dietmar, seinem Schwager, ein. Marketing. Sicher, Marketing geht immer. Das würde schon klappen. Wenn man will. Und ich würde wollen, diesem ausgelebten Kaff hier endlich den Rücken kehren und zusehen, dass mich nicht alle für einen Versager hielten, bloß weil ich den Absprung nicht geschafft und einfach nicht genug Mut gehabt hätte, die vergilbten Sicherungen rauszudrehen. Als stünde das Ende meiner Welt unmittelbar bevor, beschließe ich, eine Mayday-SMS an Dietmar abzusetzen, dessen Nummer sicherlich noch irgendwo im hintersten Winkel meines Handys herumvegetiert. Gedacht, getan! Da sag noch einer, ich sei nicht spontan. Entscheidungen. Genau! Ich hätte das Bier bestellen sollen

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