Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich
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Wichmann hatte Seen, Bäche und Flüsse mit ihr befahren. Nur zu dem einen See, um den er an einem Märztag allein gewandert war, hatte er sie nie geführt. »Wollen wir nicht einmal …?« fragte das Mädchen, aber als Oskar Wichmann ablehnte, war sie auch wieder zufrieden und musterte nur mit einem überraschten Blick sein Gesicht, dessen Ausdruck ihr auf einmal fremd erschienen sein mußte.
Es war, als ob der junge Mann einige tiefere Schichten seiner Seele verschlossen und zugemauert habe und Gras und Kräuter an der Oberfläche wachsen lasse, die ihn selbst und andere über das Darunterliegende wegtäuschten. Die Mitarbeiter nahmen seine Einkehr in die üblichen Bahnen eines jungen Beamtendaseins mit dem Wohlwollen der Herde hin, die jedem Stück ihre Gewohnheiten aufzwingt. Frau Lundheimer lächelte gerührt bei der Bemerkung, daß sie den träumerischen Assessor mit einem wirklich reizenden und frischen Mädchen auf dem Rang des großen Kinos gesehen habe. Casparius lud Dieta am verregneten Sonntag mit ein, und das Vergnügen der Drillinge an dem heiteren und hellen Mädchengesicht war so groß, daß Frau Anna Maria fast eifersüchtig wurde.
»O wie süß!« rief Dieta. »Nein, wie süß!«
Als die Sommerhitze den Asphalt der Kreuderstraße weich schmolz und die Sonntagspaddler weiße Mützen trugen, begann man in der ›Stillen Klause‹ von der Eifersucht des Kollegen Korts auf Lotte Hüsch zu sprechen. Der Gastraum mit den weißgedeckten Tischen und den kleinen Blumensträußen war dumpfig kühl hinter herabgelassenen Jalousien, der Hackbraten schmeckte einmal ein wenig übergangen, und der Konsum an Zitronenlimonade nahm zu. Korts stand häufig der perlende Schweiß auf der Stirn, wenn er fertig gegessen hatte. Er sprach wenig, und das wenige, was er sagte, klang unverbindlich. Vor seinem Arbeitseifer war trotz der entnervenden Wärme niemand sicher. Da ein weiteres Aufrücken für ihn vorläufig nicht in Frage kam, waren seine Gedanken und Empfindungen in der wesentlichen Richtung seines Daseins nicht beschäftigt und irrten um Frau und sachliche Arbeit. Die Kollegen warteten auf irgendeinen Ausbruch der angestauten Empörung gegenüber Lotte Hüsch, aber sie warteten vergeblich. Es gab nichts als gelegentliche spitze Reden. Fräulein Hüsch verbrachte das Wochenende weiterhin mit dem Regierungsrat Schildhauf. Das ›Ekel Pöschko‹ und der dem Assessor verhaßte August Nischan traten wenig in Erscheinung. Wichmann erfuhr an sich selbst, daß es möglich war, in Höflichkeit verkapselte Feindschaften lange Zeit herumzutragen. Nur selten, wenn er in den warmen Frühsommernächten zu dem wieder belaubten Ahornbaum hinüberschaute, dachte er an die Keller und Gräber seiner Seele und verachtete die Oberflächenform seiner neuen Lebensart. Diese Augenblicke gingen schnell vorüber. Er vermochte Marion jetzt zu sehen wie ein schönes Bild, wie eine Landschaft, versunken und bewundernd, aber geschieden und ohne Hoffnung der innigen Vereinigung. Es verging kein zum ›jour fix‹ bestimmter Donnerstag im Monat mehr, an dem Oskar Wichmann nicht der schon mit Gewohnheit empfangene Gast der Kreuderstraße 3 war. Er kannte die alten Herren, die sich einzufinden pflegten, er kannte die Dame mit dem Pagenkopf und Herrn Musa, von dem sie ihre salonbolschewistischen Ansichten bezog; er vermochte von jedem der jungen Diplomaten und von dem Regierungsrat Schildhauf im voraus zu sagen, welche Anschauung sie zu einem angeschnittenen Thema vorbringen würden. Es war wie ein eingeübtes Stück, das man einander immer wieder vorspielte. Lotte Hüsch erzählte gern, daß der betagte, aber lebenslustige Professor Bergschmidt, den sie im Hause Grevenhagen kennengelernt hatte, ein Landhaus am Ammersee besaß und daß sie diesen Besitz, der in der Zeitschrift »Die Dame« abgebildet worden war, im kommenden Urlaub besichtigen wolle.
Still, unberührt und unergründet stand Marion zwischen ihren Gästen, mit dunklem Haar und dunklen Augen. Nie verriet ein Blick oder eine Bewegung, daß zwischen ihr und Oskar Wichmann etwas anderes sein könne als Huldigung und die Gnade einer schönen Frau. Nichts rührte sich unter der Decke der Konvention, und die Flammen schienen ohne Nahrung erstickt.
8
Oskar Wichmann erinnerte sich später noch an den Herzschlag, mit dem das Gebäude seines Gleichmuts und der bürgerlichen Bescheidung zu wanken begonnen hatte. Es war, als ob sich ein Riß aufgetan habe, ein Riß, der schrie, so, wie Risse schreien, wenn tauendes Eis brechen will. Der Abend war müde gewesen. Die Teiche im Park lagen unbewegt, und Frösche quakten auf Seerosenblättern. In den Steinen der Stadt brütete die Schwüle und strömte in die Dämmerung. Die Reitwege wirbelten staubig auf, wenn die Hufe der verschwitzten Pferde darüber trommelten. Als die Laternen aufblinkten, spielten Mücken ruhelos in ihrem Schein. Der Hochsommer des Jahres 1929 hatte einen frühen Vorboten geschickt.
Die Fenster des Musiksalons waren geöffnet, das Licht der Kerzen spiegelte in dem schlanken Stil der Vase, die Orchideenzweige hielt, und fiel hinaus zwischen Büsche und Rasen. Die Klänge eines persischen Liebesliedes sangen sich vom Flügel fort in die beginnende Nacht, zu dürstenden Bäumen und glitzernden Sternen. Marion lächelte schwermütig. Sie hatte sich dem jungen Mann zugewandt, der am Fenster stand, ihre Augen liefen in die seinen, ihr Kopf neigte sich in den Nacken, so daß ihr Haar aus der Stirn fiel. Die Ahnung des schwülen Tages flutete durch ihren Körper. Oskar Wichmann deckte die Hand über das Gesicht, denn er hätte Marion sonst umschlingen müssen.
Sie war nahe zu ihm herangetreten, und als sie ihre Worte sprach, glaubte er den warmen Atem zwischen ihren Lippen zu spüren.
»Lieben Sie das kleine Mädchen?«
»Marion …« Sein Mund formte das Wort ohne Ton darin.
Er blickte auf den Parkettfußboden hinunter; der Glanz des gepflegten Holzes verschwamm ihm vor den Augen.
»Sind Sie schon mit dem Segel über den See gefahren? Es ist schön, so dahinzugleiten. Wollen Sie mit uns kommen?«
»Wenn Sie es mir erlauben, gnädige Frau …«
Die Augen gingen ineinander. »Mein Gatte und ich würden sich freuen.«
Als Oskar Wichmann nach diesem Abend und nach dem Sonntag, der darauf gefolgt war, wieder an dem Schreibtisch vor der getünchten Wand saß und zu dem Laub der Ulmen hinaufstierte, wußte er, wovon er träumen konnte. Sie trug eine weiße Bluse. Der dünne weiße Wollrock mit den gepreßten Falten schmiegte sich eng an ihre Hüften und ihre Knie und flatterte, wenn die Luft über das Boot zog. Ihre Augen und ihre Wangen schimmerten zwischen Licht und Schatten, und das Blut wollte aus ihren Lippen springen. Das Boot glitt dahin. Freiheit, Sehnsucht aller erdgebundenen Wesen, lag in dem Trieb der geblähten Segel. Die Leinen knarrten, die Muskeln spannten sich, weißlich wallte es um die Wunde des Wassers, die die Spitze des Bootes schnitt. Der Wind wehte, seine Stimmen rauschten, fern waren die Ufer. Wasser und Himmel schlossen sich zusammen. Wolken, Segel der Himmlischen, zogen im Flug mit den Dahingleitenden. Ja, es ist schön, Marion, mit dem Winde zu gehen, frei von der Schwere menschlichen Schritts und der Arbeit der Ruder, und schön ist es, über das schaumspritzende Wasser zu fahren, wenn die Sonne glüht. Die Silberflügel der Möwen fliegen mit uns. Dein Haar spielt locker, die Luft will deinen Leib umfangen. Lachst du, Marion? Deine Augen haben heute ein stärkeres Leben.
Laß die Kleider fallen. Deine weichen braunen Glieder dehnen sich in der Sonnenglut, sie spielen sich durch die Wasser, du schwimmst mit den Fischschwänzigen, Tochter des Sees. Ist deine Seele nicht wie das Element, das weicht und sich wieder schließt, wandelbar und niemals zu halten?
Laß uns umkehren, Marion, denn der Abend sinkt, und wir wollen still sein. Der Wind flüstert, das Segel lauscht auf ihn. Der See ist wie Sonne geworden, goldene Fläche, mit leisen Wellen treibt er zum Ufer, und wir fahren langsamer. In deinen Augen liegt das scheidende Licht, du duftest wie Wasser und Lüfte. Der Sommer