Ehrenmord ist kein Aprilscherz. Manfred Eisner

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Ehrenmord ist kein Aprilscherz - Manfred Eisner

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Wie verabredet holte ich meine Mitarbeiterin, Kriminalkommissarin Margrit Förster, in ihrer Wohnung in Kiel-Ellerbek kurz nach sieben Uhr morgens ab. Margrit ließ sich Anfang dieses Jahres von Hamburg zu uns versetzen, um hier für ihre an MS erkrankte Mutter zu sorgen. Während Margrits Abwesenheit kümmert sich eine Nachbarin um die kranke Frau. Sie ist eine pensionierte Altenpflegerin.

       Da ich nicht so gern auf der meist durch den Berufsverkehr verstopften Autobahn A 7 fahre, programmierten wir auf dem Navi eine alternative Route für unsere Fahrt nach Belgien, die uns hauptsächlich über Bundesstraßen führte. Wir befanden uns bereits kurz vor Itzehoe – wir wollten die Elbe mit der Fähre von Glückstadt nach Wischhafen überqueren –, als uns ein Anruf meines Waldi erreichte: Es habe in Oldenmoor gestern Abend eine Vermisstenmeldung gegeben. Ein Zeuge habe beobachtet, wie eine ihm bekannte Siebzehnjährige namens Amina El-Karim in einen fremden Wagen eingestiegen sei. Seitdem fehle von ihr jedes Lebenszeichen. Waldi meinte, wir sollten auf unserem Weg kurz in Oldenmoor Station machen und bei meinem ehemaligen Kollegen, dem Dienststellenleiter Polizeihauptkommissar Boie Hansen, nähere Informationen einholen.

       Ich rief sofort zu Hause in unserem Onkel Suhls Haus an und kündigte meiner erfreuten Abuelita unser baldiges Eintreffen zum zweiten Frühstück an.

       Wir wurden wie immer von meinen Kollegen der Dienststelle sehr herzlich begrüßt. Es war zudem ein freudiges Wiedersehen mit meinem ehemaligen Mitstreiter KOK Willi Seifert (sein Begrüßungskommentar – »Typisch Nili! Sie muss wohl mit ihrer berühmten Spürnase mal wieder gerochen haben, dass es bei uns etwas Brisantes zu ermitteln gibt!« – hat mir großen Spaß bereitet).

       PHK Boie Hansen berichtete ausführlich von den gestrigen Ereignissen um das mysteriöse Verschwinden der siebzehnjährigen Amina El-Karim und dem furiosen Aufstand ihres jüngeren Bruders in der Wohnung ihres Klassenfreundes. Viel Neues konnten sie uns allerdings in der Dienststelle nicht erzählen, da inzwischen die Staatsanwaltschaft und Kollegen der Bezirkskriminalinspektion in der Großen Paaschburg in Itzehoe die Ermittlungen übernommen hatten und emsig nach der Vermissten suchten. Nachdem ich den Kollegen versprochen hatte, dass wir uns auf der Rückfahrt von Belgien wieder bei ihnen melden würden, fuhren wir weiter zum Onkel Suhls Haus. Abuelita und meine Ima begrüßten uns herzlichst; sie hatten Margrit ja bereits vor Kurzem kennengelernt, als wir alle gemeinsam im famosen ›Barockengel‹ des Kollegen Ferdl nach Kiel fuhren. Ich war etwas verwundert, meine Mutter im Hause anzutreffen, da sie üblicherweise um diese Zeit auf ihrem Geflügelhof beschäftigt ist. Abuelita hatte Ima sofort über meinen Anruf informiert und sie ließ es sich nicht nehmen, mich hier zu begrüßen. Es ist wirklich sehr berührend, dass wir drei uns derart gut verstehen und lieben und uns immer wieder über jede Stunde freuen, die wir miteinander verbringen können. Ima Lissy erzählte zu meiner riesigen Freude, dass sie gestern Abend durch den Anruf unserer Rechtsanwältin Kitt Harmsen erfahren habe, dass unsere Schutzbefohlene Habiba in der nächsten Woche endlich aus dem Jugendgefängnis in Schleswig entlassen werde, von wo sie sie selbst abhole. Ich sagte, ich würde sie gern begleiten, wisse aber noch nicht, ob ich zu diesem Termin freibekäme, wir haben ja im Moment alle Hände voll mit unseren zwei gleichermaßen brisanten Fällen zu tun!

       Wir genossen die krossen und sehr aromatisch duftenden Huminta-Maiskuchenstücke mit Weißkäse, die Abuelita diesmal – mangels der Kolbenschalen, in denen die Teigportionen typischerweise eingewickelt und gebacken werden – direkt auf dem Blech in das Rohr geschoben hatte.11 Beim Essen kam natürlich der Grund unserer Spritztour nach Belgien zur Sprache. Auch meine Mutter und meine Großmutter konnten sich noch gut an den aufsehenerregenden Fall der beiden im Auto am Parkplatz der Elbfähre vorgefundenen Leichen entsinnen. Meine Ima bemerkte sogar, sie habe einmal ihren VW Taro in die Wewelsflether Werkstatt des Verstorbenen zum Service gebracht, weil die Vertragswerkstatt ihr hierfür keinen raschen Termin geben konnte. Sie hatte deshalb den Mechaniker Uwe Wilkens in guter Erinnerung und seinen gewaltsamen Tod sehr bedauert. Auch an die tüchtige und aparte Serviererin Saadet konnten wir uns alle ziemlich gut erinnern, waren wir doch mehrmals von ihr im Glückstädter Gasthof bedient worden.

       Abuelita packte uns einige der Humintas in eine Plastikdose und gab uns eine große Thermosflasche ihres starken schwarzen Tees mit Minze mit auf dem Weg. Während Margrit unseren X3 in Richtung Fähre steuerte, simste ich meinen ziemlich mageren Bericht an Waldi nach Kiel.

       Als wir Glückstadt auf der B 495 erreichten, stießen wir auf eine sehr lange, vorwiegend aus Lkws und Campern bestehende Wartekolonne. Ich befestigte kurzerhand das Blaulicht auf dem Dach unseres BMW und Margrit gab kurze Zeichen mit dem Martinshorn, als wir an der Kolonne vorbeifuhren. Ohne Wartezeit kamen wir daher gerade noch als letztes Fahrzeug auf die Fähre, die danach sofort ablegte. Nach einer halben Stunde hatten wir den Wischhafener Anleger erreicht und fuhren mit der ersten Pkw-Kolonne von der Fähre. Unsere weitere Reiseroute führte uns durch die Weser- und Emstunnel. Von da an fuhren wir auf der Autobahn über Oberhausen, Duisburg und Euskirchen.

       Wir wechselten uns alle zwei Stunden am Steuer ab und stärkten uns zwischendurch an den Huminta-Häppchen und dem heißen schwarzen Tee. Dank des bei Bedarf gelegentlichen Einsatzes von Blaulicht und Martinshorn kamen wir flott voran. Über weitere Bundestraßen gelangten wir bis zum belgischen Grenzübergang Büllingen/Malmedy. Von dort aus führte uns die Route Nationale N632 bis ins Zentrum von Bütgenbach, eine Gemeinde mit etwa sechseinhalbtausend Einwohnern in der belgischen Provinz Lüttich. Neben dem französischsprachigen Wallonien und dem flämischen Flandern gehört sie zu den deutschsprachigen Regionen des Königreiches. Am Marktplatz fanden wir die Polizeidirektion des Ortes, wo uns der mir bestens bekannte belgische Polizeikommissar Klaus Stuckert bereits angemeldet hatte. Wir wurden dort vom Inspektionsleiter Commissaire de Police Raymond Lejoly sehr freundlich empfangen. Ich übergab ihm sogleich den Smith-&-Wesson-Revolver, die Tatwaffe, mit der Uwe Wilkens erschossen worden war. Er versprach, sich um die Identifizierung gleich am nächsten Morgen zu bemühen. Da es bereits nach achtzehn Uhr war, begleitete er uns persönlich im X3 über den Marktplatz zum Parking des für uns gebuchten Quartiers, den Bütgenbacher Hof. Riesengroß war die Überraschung, als wir beim Betreten der Rezeption plötzlich mit einem ohrenbetäubenden Ruf begrüßt wurden: »Pura vida, Nili! Bienvenida en Bélgica!« Dann lagen Javier Espinoza und ich uns in den Armen. Wie schön war es, meinen guten Freund und ehemaligen Mitstreiter, inzwischen zum Polizeikommissar-Anwärter befördert, wiederzusehen, genauso wie ich mich freute, seinen typischen ur-costa-ricanischen Willkommensgruß zu hören. Er war in Begleitung eines seiner neuen Kollegen, ein sympathischer und jüngerer, mir bisher nicht bekannter Inspecteur de Police namens Piter Van der Waale. Nachdem ich den beiden Margrit vorgestellt hatte, gab uns der Herr Inspektionsleiter Lejoly persönlich die Ehre, indem er uns ins noble Restaurant des Hotels hinüberführte, wo man uns mit einem üppigen und reichhaltigen Abendmahl verwöhnte.

       Als Lejoly – der übrigens ebenso fließend Deutsch wie Flämisch und Französisch spricht – sich nach dem Essen verabschiedete, verbrachten wir vier noch sehr angeregte Klönstunden in der Hotelbar. Margrit und Piter verstanden sich offensichtlich sehr gut, sodass Javier und ich uns ausführlich auf Spanisch unterhalten konnten. Conchita, seine damalige Freundin, und er hatten vor zwei Monaten flugs geheiratet, als sich unerwartet Nachwuchs anmeldete. Mit einem breiten Lächeln eröffnete er mir, dass es wohl ein Mädchen werden würde. Conchita und er seien sich einig, dass das Kind auf den Namen Nili Maria getauft werden sollte und ich schon deshalb unbedingt ihre Taufpatin sein müsse. Dies berührte mich sehr und ich gab ihm gern meine Zustimmung, bemerkte allerdings, dass ich trotz meiner jüdischen Herkunft aus innerer Überzeugung keiner Konfession angehöre. Er meinte, ich brauche mir deswegen keine Sorgen zu machen, er würde das mit seinem Pfarrer schon regeln. Auch sein Teampartner und Freund Arne Svensen und dessen Frau Sybille hatten vor Kurzem einen Sohn bekommen. Übrigens solle er mich von allen, angefangen von seinem Chef Robbe van Dongen und dessen Frau Mareijke, herzlich grüßen. Es war schon fast Mitternacht, als Margrit und ich uns in unsere Zimmer zurückzogen.

      

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