Ehrenmord ist kein Aprilscherz. Manfred Eisner
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Читать онлайн книгу Ehrenmord ist kein Aprilscherz - Manfred Eisner страница 9
Wenig später parkt Achmed Mansour den Kombi der El-Karims vor der Polizeistation in Oldenmoor.
»Da ist noch Licht und ich hab soeben einen Polizisten am Fenster gesehen!«, sagt Osman. Die beiden Männer und der Junge steigen aus. Jalil läutet an der Türklingel. Polizeihauptkommissar Boie Hansen, der Dienststellenleiter, öffnet ihnen.
»Guten Abend, meine Herren, das ging aber schnell! Sie sind meiner Streife zuvorgekommen, die ich zu Ihnen nach Hause geschickt habe. Ich vermute, Sie sind Herr El-Karim, der Vater von Walid, und du bist sein Bruder, nicht wahr? Und Sie sind …?«, fragt er den Begleiter der beiden.
»Ich heiße Mansour, Achmed Mansour. Ich bin ein Freund der Familie El-Karim und möchte eine Zeugenaussage machen.«
»Na, denn kümmt man rin!«, sagt Boie Hansen und tritt zur Seite, um ihnen Einlass zu gewähren.
Als die drei vor seinem Schreibtisch Platz genommen haben, schaut Boie Hansen nacheinander in deren Gesichter. »Also, Herr El-Karim, da hat sich Ihr Herr Sohn ganz schön was geleistet, das muss man schon sagen! Ich weiß, ich weiß«, unterbindet er mit einer Armbewegung Jalil El-Karims Versuch, eine Erklärung abzugeben, »Ihr Sohn Walid hat mir bereits alles über das unerklärliche Ausbleiben Ihrer Tochter – wie hieß sie noch? Also ja, hier hab ich’s: Ihrer Tochter Amina – erzählt. Aber deswegen darf er doch nicht die Wohnungstür eines ihrer Klassenkameraden eintreten und einen solchen Aufstand machen, dass das ganze Haus zusammenläuft! Das bringt ihm mindestens eine Anzeige wegen schweren Hausfriedensbruchs nach Paragraph 123 Strafgesetzbuch ein! Insofern hat er Glück, denn er wird erst in zwei Tagen einundzwanzig, da geht’s gerade noch vor einen Jugendrichter! Es kommt auch darauf an, ob der Geschädigte Strafantrag stellt.«
»Ja, Herr Kommissar«, erwidert Jalil El-Karim, »ist mir bekannt. Aber ich habe soeben mit Herrn Ewers gesprochen und meinen Sohn entschuldigt. Er sagte, er wolle von einer Anzeige absehen. Ich werde den von Walid angerichteten Schaden an der Tür selbstverständlich bezahlen, das habe ich ihm versprochen!«
»Na, dann ist ja für Ihren Sohn alles glimpflich abgegangen! Bläuen Sie ihm aber ein, dass er sich in Zukunft zusammenreißen muss, sonst kriegt er Ärger mit uns! Wenn er diesmal auch straflos ausgeht, ist er immerhin als Wüterich aktenkundig geworden. Dann nehmen Sie also in Gottes Namen Ihren Filius wieder mit!« Boie Hansen will sich gerade mit dem Zellenschlüssel in der Hand erheben, als Polizeiobermeister Willi Seifert und Polizeimeister Dieter Klages eintreffen. Überrascht blicken sie auf das Besuchertrio.
»Na, da pliert ju, wat?«, sagt Boie Hansen. »De Mannslüüt sind jüm al vörafkömmt.9 Dieter, holst du bitte den Jungen raus? Er darf gehen!« Er übergibt dem Polizeimeister den Schlüssel.
»Einen Moment bitte, Herr Kommissar!«, meldet sich Jalil El-Karim zu Wort. Ich muss noch etwas Wichtiges anzeigen! Meine Tochter Amina wurde ganz sicher entführt! Der Herr hier ist Zeuge!«
Die drei Polizisten spitzen die Ohren und hören aufmerksam zu, während Achmed Mansour seine Aussage zu Protokoll gibt und Willi Seifert diese simultan in den PC tippt. Boie Hansen schaltet den Drucker ein und legt wenig später die beiden ausgedruckten Blätter El-Karim und Mansour zur Unterschrift vor.
»Und Sie sind sich absolut sicher, dass es sich dabei um eine Entführung handelt?«, fragt Willi Seifert erneut.
»Absolut sicher, Herr Polizeimeister! Wir haben Amina sehr streng erzogen. Sie würde niemals freiwillig in ein fremdes Auto steigen!« Jalil El-Karim schaut kurz über das Protokoll und unterschreibt schließlich.
»Ich meine ja nur, der Zeuge hier, Herr Mansour, hat doch erzählt, dass Amina beim Einsteigen kein Kopftuch trug, was für sie ungewöhnlich ist. Könnte es deshalb nicht doch sein, dass …?«
»Vollkommen ausgeschlossen, so etwas tut meine Tochter nicht!«, lautet die radikale Erwiderung des empörten Vaters.
Der inzwischen aus der Zelle entlassene Walid will etwas sagen, ein wütender Blick des Vaters gebietet ihm jedoch zu schweigen.
»Und über den schwarzen Bus können Sie wirklich keine näheren Angaben machen, Herr Mansour? Automarke, polizeiliches Kennzeichen, irgendwelche Aufschriften? Haben Sie vielleicht den Fahrer gesehen oder gar erkannt? Denken Sie bitte nach, es ist wichtig!«, insistiert Boie Hansen.
Mansour verneint. Inzwischen hat auch er das Protokoll unterschrieben. »Tut mir wirklich leid, ich habe das wohl wahrgenommen, aber in diesem Moment nicht überlegt, was es bedeuten könnte. Erst später, als ich den Grund für Walids wütendes Verhalten erfuhr, habe ich über die Bedeutung meiner Beobachtung nachgedacht und meinem Freund El-Karim davon erzählt.«
»Gut, dann gebe ich eben die Fahndung nach Amina mit dem wenigen, was wir haben, durch! Hoffen wir, dass all dies nur ein Missverständnis ist und Ihre Tochter bald wieder zu Ihnen zurückkommt, Herr El-Karim! Sollte dies der Fall sein, dann melden Sie es uns bitte sofort!« Boie Hansen steht auf, die Besucher tun es ihm gleich.
»Dann gute Nacht, meine Herren! Wir machen für heute Ladenschluss!«
3. Ein frohes Wiedersehen
Hallo, liebes Tagebuch! Dann wollen wir mal wieder! Jetzt, wo ich endlich von der Reise zurückgekehrt bin, muss ich unbedingt die Ereignisse der letzten Tage nachtragen. Wir waren zuletzt abends immer spät im Hotel und ich selbst viel zu müde, um noch zu schreiben.
Nili nimmt sich heute erneut ihr Tagebuch vor, in dem sie die wichtigsten und interessantesten Fälle festhält. Sie tut es damit ihrer Abuelita (Oma) Clarissa gleich, die schon seit früher Jugend die bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraute und gelegentlich Tochter und Enkelin auch daraus vorliest. Nili erfährt dadurch immer wieder interessante Begebenheiten aus ihrer Familiengeschichte und von den ereignisreichen Tagen der Flucht der Großeltern Heiko und Clarissa, ihrer Mutter Lissy und ihrem Onkel Oliver aus Nazi-Deutschland sowie aus ihrem langjährigen bolivianischen Exil. In ihrem ersten Gymnasialjahr in Hamburg begann sie mit den Einträgen und hielt in unregelmäßigen Abständen alle jene Erlebnisse handschriftlich fest, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg und anlässlich des jähen Endes einer Liebschaft unterbrach sie die Gewohnheit für längere Zeit und begann erst Jahre später, bereits zur Kriminaloberkommissarin befördert und nach Oldenmoor zurückgekehrt, erneut mit dem Schreiben. Heute aber tippt sie ihre Aufzeichnungen auf dem Laptop und speichert diese Berichte auf einer separaten, nur für sie selbst bestimmten Festplatte.
Also, der Reihe nach: Mein Team hat einen (alten!) neuen Fall zu bearbeiten, den aufsehenerregenden Glückstädter Doppelmord vor etwa eineinhalb Jahren. Ich kann mich an die furchtbare Tat erinnern, denn ich war zu jener Zeit noch im benachbarten Oldenmoor als Kriminaloberkommissarin tätig. Allerdings hatten wir nicht direkt mit dem Fall zu tun, denn der wurde von der Bezirkskriminalinspektion in Itzehoe bearbeitet. Deren damaligen Leiter, Kriminaloberrat Thumann, habe ich nur flüchtig gekannt, Staatsanwalt Pepperkorn lernte ich dagegen zusammen mit dem heutigen Bezirksleiter, Kriminaloberrat Heinrich Stöver (von seinen Mitarbeitern hinter dem Rücken ›Hein Gröhl‹ genannt) erst Monate später anlässlich des Mordfalls an den beiden Frauen im verbrannten Bauernhaus10 kennen. Beim Durcharbeiten der sehr umfangreichen Akte haben wir bezüglich der damaligen Ermittlungen einige Lücken festgestellt, denen wir jetzt nachgehen müssen. Eine davon betrifft den mysteriösen Renault mit belgischem Kennzeichen, in dem die Leichen gefunden wurden. Unklar ist nach wie vor, wie und von wem dieses Fahrzeug zum Fundort gebracht wurde. Das wollten wir nun nachholen und im belgischen Grenzort