Gesundes Gift. Franz Kabelka
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Ajith hatte noch nie ein derart teures Tuch auf der Haut gespürt, aber er beneidete den anderen nicht darum. Er machte sich nichts aus Statussymbolen. Zog es sogar vor, schlicht und möglichst locker gekleidet seiner Arbeit nachzugehen. Wenn er, wie momentan, selbst einen Anzug trug, dann nur deshalb, weil das in gewissen Situationen einfach unvermeidlich war. Weil man nicht auffallen durfte, sich anzupassen hatte wie ein Chamäleon. Das war in seiner Branche eines der ungeschriebenen Gesetze. Wobei diese die einzig wichtigen waren, davon konnte er ein Lied singen.
„Es geht um eine große Sache“, sagte er unvermittelt, „eine, die unserem älteren Bruder äußerst wichtig ist. Dein Anteil dabei ist einfach und klar umrissen: Du hast nur Informationen zu beschaffen und ein bisschen Material, das ich nicht im Flugzeug mitbringen konnte. Aber unter keinen Umständen darf jemand etwas von unseren Aktivitäten erfahren. Unter gar keinen Umständen. Ansonsten …“
Mit der Handkante fuhr er von rechts nach links über seine Kehle. Es ging so schnell, dass kein Gast im Nepalese Corner es bemerkte. Außer der eine, für den die Botschaft bestimmt war.
Ajith nippte an seinem Kaffee und musterte Murugan über den Rand der Tasse hinweg. Freundlich, aber deutlich länger als üblich. Unnötig lange wäre dennoch der falsche Ausdruck gewesen. Schließlich war eine solche Verzögerung der normalen Zeitabläufe mitunter das wirksamste Mittel, um Kontrolle auszuüben. Ich könnte darüber ein richtig dickes Buch schreiben, dachte er, eines, das strotzt vor Alltagserfahrung. Vor angewandter Psychologie. Von beidem hatte Ajith Nair sich mit seinen eben mal neunundzwanzig Jahren zweifellos schon jede Menge angeeignet.
Der Blick über die Kaffeetasse zeigte ihm, dass die Botschaft angekommen war. Das Blut war aus dem Gesicht des Brokers gewichen. Zu Hause in Indien strebte ein jeder nach einem möglichst blassen Teint – je heller, desto besser stand man damit da in der gesellschaftlichen Hierarchie. Manche ließen sich sogar mit Chemie behandeln, um ihre Haut ein klein bisschen aufzuhellen. Aber damit hatte das plötzliche Weiß im Gesicht R. S. Murugans nichts zu tun.
„Selbstverständlich“, flüsterte er. Dann versuchte er sich an einem Lächeln. „Meine Lippen sind versiegelt. Was immer unser älterer Bruder wünscht, es wird geschehen.“
Nun lächelte auch Ajith. Eine Sekunde lang hegte er so etwas wie Mitgefühl für den anderen. Saßen sie nicht beide im selben Boot, wurden sie nicht vom selben Licht bestrahlt? Murugan, der erfolgreiche Börsenspekulant, und er, der nicht weniger erfolgreiche Agent, wie er sich selbst bezeichnete – stammten sie nicht aus derselben Gosse, auch wenn die seine in Kerala lag und jene Murugans in Tamil Nadu? Nein, verwarf er brüsk den Anflug von Sentimentalität, Gefühle waren schädlich, waren gefährlich in seinem Gewerbe. Es galt sich ihrer schnellstmöglich zu entledigen, wann immer sie einen zu überwältigen drohten, gemeinsame Hautfarbe und Herkunft hin oder her! Nur die Treue zählte, und die war weit mehr als ein Gefühl: Sie war eine Grundbedingung, die einzige Konstante in Ajiths Leben. Ohne sie war man nichts, höchstens Scheiße auf Beton.
Unfruchtbar wie Scheiße auf Beton.
Es war der Lieblingsspruch seines Vaters gewesen. Wie oft er ihn wohl in seinem Leben wiederholt hatte? Und ob er ihn auch auf den Lippen führte, ein letztes Mal, als er das Undenkbare beging? Als er sich umbrachte, wie so viele verarmte Bauern damals, wegen der einen Missernte zu viel. Wegen der Wucherzinsen, die er nicht mehr zurückzahlen konnte. Wegen der Schande, die eigene Familie nicht mehr ernähren, die Ausbildung des Sohnes an der Privatschule in Trivandrum nicht mehr finanzieren zu können. Die katholische Schule, an der er, der Hindujunge aus ärmlichen Verhältnissen, erstmals frei zu atmen gelernt hatte, wo er den Geist einer anderen Welt einsog wie frische Meeresluft. Sie lasen sogar ausländische Bücher und lernten dreimal so viel wie an der staatlichen Schule, die fast alle anderen aus seinem Dorf besuchten, die danach nicht einmal ordentlich Hindi sprechen konnten. Vor allem Englisch liebte er. „Nur wenn ihr Englisch beherrscht, könnt ihr in diesem Land etwas werden“ – das war ihnen von seinem Lieblingslehrer, der in den Vereinigten Staaten studiert hatte, immer wieder eingetrichtert worden. Seiner Ansicht nach hatte Ajith großes Talent, und Ajith setzte alles daran, den amerikanischen Akzent seines Lehrers zu kopieren. So drückte er seine Dankbarkeit und Zuneigung aus. Es fehlte ihm nur noch ein Jahr, ein lächerliches Jahr. Den Abschluss hätte er, der fleißige Schüler, problemlos geschafft. Mit einem guten Zeugnis wären auch lukrative Posten außerhalb seines Dorfes für ihn in Reichweite gerückt. Möglichst weit weg von zu Hause, wo es nur die Alternative gab, sich als Bauer oder als Fischer zu Tode zu schinden.
Aber Vater hatte es vorgezogen, eines Morgens in den Verschlag hinter ihrer Hütte zu gehen, wo sie das Zeug lagerten, das in weißen Säcken darauf wartete, auf die Felder ausgebracht zu werden, und eine Handvoll davon zu schlucken. So erfüllte das Pestizid am Ende doch noch seinen einzigen Zweck: zu töten. Wenn auch auf den Feldern nicht einmal mehr das gedieh, was man damit hätte vertilgen müssen. Was sonst sind wir als Unkraut, hatte Vater an seinem letzten Tag gemurmelt.
Sie hatten nicht verstanden, was er damit sagen wollte.
Und weil Vater nicht der erste und nicht der letzte Bauer gewesen war in diesem Jahr, als der Monsun das dritte Mal hintereinander ausblieb, der Gift schluckte oder sich an einem Baum erhängte, wurde eine Kommission eingerichtet. Eine fact-finding delegation, die herausfinden sollte, was wohl schuld sei an der Häufung von Selbstmorden in der Landbevölkerung. Und als die Kommission herausfand, dass nichts Ungewöhnliches herauszufinden war, dass es ebenso viele unterschiedliche Gründe wie Todesfälle gab, speiste man die Familien der Selbstmörder gnadenhalber, oder weil gerade Wahlen anstanden, bei denen man jede Stimme benötigte, mit jeweils drei lakh Rupien ab, dreihunderttausend Rupien also für jeden toten Vater und Alleinverdiener. Wenn die so Beschenkten dann ihre Schulden an die Gläubiger zurückgezahlt hatten, welche für die Kredite zwischen fünfundzwanzig und sechzig Prozent nahmen, blieb so gut wie nichts übrig. Jedenfalls nichts, mit dem man das letzte Schuljahr für den einzigen Sohn hätte berappen können.
In der allgemeinen Verzweiflung, als Mutter Grund und Boden für einen lächerlichen Betrag verkaufen musste und man die Heirat der Schwester, mitgiftlos, wie sie war, wieder absagte, tauchte er auf. Er, der ältere Bruder mit dem langen weißen Bart, wie man ihn in Kerala selten zu Gesicht bekam. Ein Mann, der sich um sie kümmerte und ihn, den Halbwüchsigen, mitnahm, hinüber in die große Stadt, die einmal Madras geheißen hatte. Ein älterer Bruder, der ihn wie ein wahrer Maharadscha in seinem weißen steinernen Haus aufnahm, als wäre er, der unwürdige Sohn eines Selbstmörders, sein eigen Fleisch und Blut. Der ihm Arbeit und Essen gab und ihn für seine Dienste sogar noch bezahlte, wodurch Ajith in die Lage versetzt wurde, seinen Teil dazu beizutragen, dass Mutter und Schwester nicht länger betteln mussten und wieder ein Dach über dem Kopf bekamen. All das dank eines bärtigen Fremden, der sich aus Kastengrenzen nichts machte. Der wie ein wahrer Vater an ihm handelte, bis zum heutigen Tag.
Nicht wie jener, der die Seinen alleine zurückließ.
Ihm, dem älteren Bruder, als der er sich ansprechen ließ, ihm allein galt seither Ajiths ganze Hingebung. Seine Treue. Bis in den Tod.
Nicht umsonst trug er diesen Namen: Ajith. Der, der nicht zu besiegen ist. Und war er nicht ein Nair, ein Abkömmling der alten Kriegerkaste? Wenn auch die Nairs ihre hohe Stellung längst verloren hatten – ihr Erbe trug er im Blut.
Vor allem aber war er ein Profi. Und ein Profi wusste nie, welchen Auftrag er als Nächstes erhielt.
Wen er als Nächsten zu eliminieren hatte.
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Gegen