33 Tage. Marko Rostek
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Diese Gedanken reißen Oskar Potiorek zurück in die Gegenwart. Zum ersten Mal, seit er die Zelle betreten hat, ist er jetzt in der Lage, sein Gegenüber genau zu mustern. Princip sitzt noch immer regungslos auf seinem Sessel und hält den Kopf gesenkt. Er hat noch denselben Anzug an, den er beim Attentat getragen hat. Das weiße Hemd ist mittlerweile verschmutzt, am Jackett fehlt eine Tasche. „Das ist wohl im Zuge der Handgreiflichkeiten während der Festnahme geschehen“, denkt Potiorek. Er zieht den rechten Handschuh an und streckt langsam seine Hand über den Tisch. Ohne Widerstand lässt sich der Kopf des jungen Mannes anheben. Potiorek blickt in zwei schwarze, grimmige Augen. Das dichte Haar und der typisch unregelmäßige Oberlippenbart können sein Alter nur schwer verbergen. Potiorek blickt lang in die Augen des Attentäters und versucht, auch nur den geringsten Anflug von Reue oder Schuldbewusstsein zu entdecken. Vergebens. Vielmehr hat der Landeschef den Eindruck, als erblicke er so etwas wie Mitleid für ihn selbst im Blick des jungen Bosniers. Nein, reden hätte keinen Sinn, jedes Wort wäre ein Wort zu viel und vergebens!
Die Verletzlichkeit und Jugend des Jungen lassen Potiorek zur Überzeugung kommen, dass selbst der schlimmste Albtraum besiegt werden kann. „Alle Fäden laufen zwar in Wien zusammen und ich bin fern der Machtzentrale“, der Landeschef spürt einen Funken Hoffnung bei diesem Gedanken, „aber noch habe ich Freunde und Einfluss. Die Schuldigen werden bezahlen!“
Etwas zuversichtlicher steht Potiorek auf und bleibt, auf Princip herunterblickend, noch einen Augenblick stehen. Dann dreht er sich um und geht langsam zur Tür. Er klopft zweimal und sofort wird ihm geöffnet. Als Potiorek die Zelle verlassen will, steht Princip auf und ein zynisches Lächeln umspielt seinen Mund. Der Feldzeugmeister, mit einer Hand hat er bereits die Zellentür ergriffen, blickt zurück und stößt mit kräftiger Stimme hervor: „Du hast keine Ahnung, was du mit deiner Tat angerichtet hast, mein Junge, aber ich werde alles daran setzen, dass dir unsere Antwort darauf nicht verborgen bleibt!“
Mit Gewalt fällt die schwere Tür ins Schloss und der Riegel wird wieder vorgeschoben. Princip bleibt noch eine Weile stehen, dann geht er zum Bett und legt sich auf den Rücken. Langsam streckt er sich aus und kreuzt seine Arme über der Brust. Seine weit geöffneten Augen blicken starr auf den Plafond. Lange liegt er regungslos da. Dann, in der Zelle wird es bereits dunkel, fährt er plötzlich hoch und schreit voller Inbrunst in die Stille des Gefängnisses: „Ich bin kein Verbrecher, denn ich habe einen Mann getötet, der Unrecht getan hat! Ich glaube, dass ich richtig gehandelt habe!“
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Am selben Nachmittag, während in Sarajevo Feldzeugmeister Oskar Potiorek das Gefängnis verlässt, sitzt der Botschafter des Deutschen Reiches in Wien, Heinrich Leonhard von Tschirschky und Bögendorff, in seinem Büro und arbeitet an einem Bericht für seinen Vorgesetzten in Berlin.
Am Morgen hat er als einer von vielen Vertretern der ausländischen Mächte dem Außenminister der österreichisch-ungarischen Monarchie seinen Kondolenzbesuch abgestattet. In diesem Rahmen hat sich auch die Gelegenheit zu einer kurzen privaten Unterredung mit Graf Berchtold geboten. In völliger Übereinstimmung mit den bisherigen Gepflogenheiten und der offiziellen Haltung der deutschen Außenpolitik hat er sich als offizieller Vertreter seines Landes für ein hohes Maß an Besonnenheit und Zurückhaltung in der Donaumonarchie ausgesprochen. „Österreich darf nichts überstürzen, muss bei Aktionen jedenfalls die europäische Gesamtlage im Auge behalten und darf aus Rücksicht auf den deutschen Bundesgenossen keine übereilten Schritte herbeiführen“, sind seine Worte an Berchtold gewesen. Dieser hat sich dafür sehr freundlich bedankt und versichert, dass in diesen Zeiten eine friedliebende und sachlich ruhige Weltanschauung besonders hilfreich sei.
Jetzt sitzt Tschirschky an seinem Arbeitsplatz und verfasst vorschriftsgemäß seinen zusammenfassenden Bericht über die Ereignisse des Tages an den Kanzler des Deutschen Reiches, Theobald von Bethmann Hollweg. „Ich benutze bei dem österreichischen Minister jeden solchen Anlass, um ruhig, aber sehr nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten zu warnen“, erläutert Tschirschky. Die Feder beiseite legend, lässt er das Gespräch mit Berchtold nochmals Revue passieren. Dieser hat ausgeführt, dass der gesamte Tathergang auf Spuren nach Serbien hindeute und der Thronfolger als ein Opfer einer Verschwörung zu betrachten sei. Auch von anderer Stelle habe man an ihn, Berchtold, seit Bekanntwerden des Attentates ständig den Wunsch herangetragen, mit den Serben endlich abzurechnen. Seine beruhigenden Worte wiederholend, hat der deutsche Botschafter abermals auf die möglicherweise verheerenden Auswirkungen eines unüberlegten österreichischen Vorgehens hingewiesen.
Mit einem zufriedenen Lächeln und im Bewusstsein, beruhigend auf die offiziellen Stellen in Österreich eingewirkt zu haben, unterfertigt der Botschafter seinen Bericht und bringt ihn für die weitere Bearbeitung und den Versand nach Berlin ins Vorzimmer.
MITTWOCH, 1. JULI
Während die beiden hohen Masten im glänzenden Licht der aufgehenden Sonne schon weithin sichtbar sind, liegt der Stahlrumpf des Schiffes noch im fahlen Halbschatten der Morgendämmerung. Langsam lässt die aufgehende Sonne immer tiefer liegende Deckaufbauten im hellen Morgenlicht erstrahlen. Aus den beiden großen Schornsteinen verpuffen die letzten grauen Rauchschwaden, die sich im sanften Wind mäanderförmig in den wolkenlosen Himmel winden, dabei immer heller werden und schließlich völlig verschwinden. Nach den riesigen Schornsteinen tauchen die wuchtigen, dreiläufigen Kanonentürme in das gleißende Licht des neuen Tages. Treppenförmig angeordnet ragen die mächtigen Aufbauten an Bug und Heck über das Schiffsdeck hinaus und dominieren das imposante Erscheinungsbild des Schlachtschiffes. Dann liegt die Viribus Unitis in ihrer ganzen militärischen Pracht im Hafen von Triest.
Trotz der morgendlichen Stunde ist die gesamte Mannschaft an Deck angetreten und erweist den Toten, die die ganze Strecke von Metkovic bis hierher am Bug des Schiffes aufgebahrt waren, die letzte Ehre. Alles verharrt in Stille, während zwei Beiboote an der Längsseite des großen Schlachtschiffes langsam zur spiegelglatten Wasseroberfläche abgelassen werden. Im Hintergrund ertönt das monotone Stakkato der Trommler, die die Trauerzeremonie begleiten. In der Mitte der beiden kleinen Boote steht je ein Sarkophag, rechts und links von Matrosen der Ehrenwache in ihren Galauniformen flankiert. In strenger Abfolge werden Kommandos gegeben und ausgeführt, Matrosen setzen sich auf die vorgesehenen Plätze und lassen synchron die Ruder zu Wasser. Das Trommeln am Schiff verstummt, ein weithin schallendes Kommando bereitet die Besatzung auf den folgenden ohrenbetäubenden Lärm vor. Sekunden später erzittert das riesige Schiff unter dem grollenden, fauchenden Getöse des ersten Salutschusses. Zu Ehren der beiden Toten folgen weitere von jedem der dreiläufigen Kanonentürme. Die Triester, die sich schon vor Sonnenaufgang am Hafen versammelt haben, um diesem Moment von historischer Tragweite beiwohnen zu können, hören noch lange die Echos als gewaltiges Donnergrollen, das aus den umliegenden Hügeln zurückgeworfen wird. Dann herrscht wieder Stille.
Plötzlich, wie von einer unsichtbaren Mechanik gesteuert, beginnen die Matrosen in beiden Booten mit einem für Anlässe dieser Art eigentümlichen Rhythmus die Ruder ins Meer zu tauchen und die Boote in Bewegung zu setzen. Während der Salutschüsse haben sich die Trommler auf ihre Plätze im ersten Beiboot begeben und erwecken von dort aufs Neue mit dem monotonen Klang ihrer Instrumente jenen Takt, der die weitere Zeremonie begleitet. Bedächtig und sorgsam auf das Gleichgewicht achtend, gleiten die beiden Boote der Stadt entgegen, die durch den Kaiser schon vor über 60 Jahren für ihre patriotische Haltung in längst vergangenen Kriegen mit besonderen Auszeichnungen bedacht worden ist.