Extra Krimi Paket Sommer 2021. A. F. Morland
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»Natürlich.«
»Version eins: Tatsächlich wurde dort eine Leiche gefunden. Täter? - Unbekannt. Aber da hat man ja jetzt jemanden, eine überspannte Frau, die bei der Kripo ein saublödes Lügenmärchen erzählt. Immer noch richtig?«
»Richtig. Wir hätten Sie massiv verdächtigt.«
»Version zwei: keine Leiche und keine Spuren eines Verbrechens. Was schnattert die dumme Gans denn da von Leichen und Schüssen und Blut? Im Wohnzimmer gibt’s keinen Teppich, geschweige denn einen mit Blutspuren. Ach so, Gedächtnisverlust - Herr Kollege, hat man die Dame mal daraufhin untersucht, ob sie nicht völlig plemplem ist?«
Rogge lächelte, weil sie laut und temperamentvoll geworden war, mit den Armen herumfuchtelte und ihn schließlich am Jackenärmel festhielt, dass er stolperte. So gefiel sie ihm besser als gedrückt schlurfend.
»Ja, so wär's wohl abgelaufen«, stimmte Rogge endlich zu.
Zwanzig Schritte spazierten sie stumm.
Schließlich murmelte Charlotte Bongartz: »Vor beiden Möglichkeiten hab ich Angst gehabt.«
Jetzt blieb Rogge stehen und sah sich um. An dieser Stelle führte der Weg direkt bis an den See heran und der überhängende Felsen war zu einer Aussichtsplattform geglättet worden.
Zehn Meter unter dem dicken, festen Geländer gluckerte das Wasser und Rogge lehnte beide Unterarme auf das Holz. Ein Ort zum Träumen, dachte er traurig. Ein Hauch von Wind kräuselte die Oberfläche des Sees und bewegte den grauen Dunst.
Plötzlich stand sie neben ihm, auch nach vorn gebeugt, und starrte auf das Wasser hinunter.
»Aber jetzt erzählen Sie mir die Geschichte«, sagte Rogge leise. »Obwohl sie immer noch so unglaublich ist wie vor Monaten.«
»Wirklich? Und ich dachte, der Mann, den Sie erschossen haben, verleihe ihr eine Spur von Wahrscheinlichkeit.«
Den Hohn hatte er verdient, deswegen sagte er nichts.
Nach einer Weile flüsterte sie: »Wie kann ich Sie denn überzeugen?«
»Weshalb haben Sie sich Schönborn nicht anvertraut?« Rogge wandte sich zu ihr und musterte sie versonnen. Verrückte Geschichten mussten nicht erfunden sein, neun von zehn Fällen, die sie im Kommissariat bearbeiteten, waren langweilig, oft mehr als stumpfsinnig, und der zehnte übertraf alles, was sich Krimiautoren ausdachten. Doch auch die verrückteste Geschichte gehorchte einem Gesetz, sie war in sich stimmig, logisch, selbst wenn ihre innere Logik einem Kriminalbeamten nicht auf den ersten Blick einleuchtete. Was Charlotte Bongartz bis jetzt erzählt hatte, fiel in die Kategorie unwahrscheinlich, aber die Fakten wie die Lücken passten zueinander. Nur ihr Verhalten ab dem Tag, an dem sie ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte - das begriff er nicht.
Auch sie hatte sich umgedreht, lehnte jetzt schräg, mit einem Arm abgestützt, an dem Geländer und schaute ihn fest an. Ein anziehendes Gesicht, fiel ihm wieder auf, nachdenklich und ernst. Zu seiner Schülerzeit verguckte man sich noch in ein Mädchen, vielleicht passierte ihm das gerade auch. Ihr Blick ließ ihn nicht los, bis sich ihre Mundwinkel verzogen. Sie konnte die Nase herrlich krausen und zugleich die Stirn runzeln, wie ein Kobold, er lächelte zurück.
»Gehen wir noch ein Stück?«
»Gerne.«
Sie schlenderte neben ihm her. »Warum ich Achim ... Wissen Sie, was mein erster Gedanken war, nachdem sich dieses graue Loch verflüchtigt hatte? - Dass Achim Schönborn eine verteufelte Ähnlichkeit mit Hans Zinneck hat.«
Ja, so konnte man es sehen.
»Natürlich habe ich mir immer wieder überlegt, ob ich ihm die Geschichte erzählen soll, aber ich habe mich nie darauf verlassen können, wie er reagieren würde.«
Damit kam sie der Wahrheit wohl sehr nahe. Schon einmal waren sie Schönborn auf die Pelle gerückt und hatten ihm unterstellt, beim Tode seiner reichen Frau nachgeholfen zu haben. Den Ärger ein zweites Mal? Hätte Schönborn sich für Charlotte stark gemacht?
»Dann schlichen mir immer noch Grembowskis Leute nach. Und die anderen, mein Gott, Herr Rogge, wenn mir Zinneck nun keinen Bären aufgebunden hat, sondern diese Liga tatsächlich einen Verräter liquidiert hat?«
Alles logisch und trotzdem noch nicht überzeugend.
»Aber der wirkliche Grund - als ich plötzlich wieder Charlotte Bongartz war, wusste ich, dass ich Achim nicht liebte. Dankbar, ja, das war ich und bin ich immer noch, aber ich brauchte ihn nicht mehr.« Unvermittelt blieb sie stehen, Rogge ging noch ein paar Schritte weiter und drehte sich um.
»Es fehlt noch etwas«, erinnerte Rogge.
»Ja.« Sie holte tief Luft und blitzte ihn wütend an. »Ja, von Rollesheim habe ich ihn angerufen, da wusste er schon, dass ich Charlotte Zinneck heiße, und es hat ihm gar nicht gefallen, dass ihm das ein Mensch aus dem Polizeipräsidium offenbaren musste. Ich war enttäuscht über seine Reaktion, aber darf ich Schönborn deswegen Vorwürfe machen?«
»Nein«, gab Rogge zu. »Aber Sie brauchten Hilfe. Ohne Geld sind Sie nicht weit gekommen ...«
»Nein, und in meine Wohnung traute ich mich nicht.«
»Was immer Sie geplant hatten, Schönborn musste Ihnen helfen. Und sei es auch nur noch mit einem Tausendmarkschein.«
»Ja, ja, ja«, schrie sie ihn an und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. »Sie Klugscheißer, so weit war ich auch schon gekommen. Nachdem ich auf dem Boot untergekrochen war, habe ich Achim auf Band gesprochen, wo ich bin und dass er kommen soll. Stattdessen haben mich drei Männer fast erwischt. Sind Sie nun zufrieden, Sie ... Sie ...?«
Rogge schüttelte den Kopf. Zufrieden traf's nicht, aber die größten Lücken waren geschlossen. Er ging auf sie zu und nahm ihren Arm, zornig machte sie sich frei: »Was wollen Sie noch?«
»Frau Bongartz, man kann Anrufbeantworter abhören. Auch durch eine Fernabfrage. Die Männer, die heute Morgen hier waren, schrecken vor nichts zurück. Meinen Sie, die wüssten nicht, wie man Telefonleitungen anzapft oder in ein Haus einbricht?«
Sie wollte Rogge nicht zuhören, deswegen schlenderte er langsam Richtung Motel zurück.
Nach fünf Minuten vernahm Rogge schnelle Schritte, und als sie atemlos zu ihm aufschloss, sagte sie zerknirscht: »Entschuldigung, ich bin wohl - ich weiß nicht, was ...«
»Aber ich weiß«, erwiderte Rogge gemütlich. »Nämlich, was wir jetzt tun werden.«
»Wir? Was?«
»Sie wollten doch nach Lindau.«
»Klar«, pflichtete sie bei. »Und dann mit der Fähre nach Rorschach.«
»In die Schweiz?«
»Wo deponieren reiche Erbinnen ihr Geld, wenn weder Finanzamt noch Ehemann zugreifen sollen?«
»Ach so, ja, natürlich. Nur schlecht, wenn man mangels kleiner Münzen den ganzen Weg zum Geld laufen muss.«