Goetheherz. Bernd Köstering

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Goetheherz - Bernd Köstering

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Kellnerin kam, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei und ob sie vielleicht eine weitere Flasche Wein bringen solle. Richard sah Hendrik fragend an, der schüttelte den Kopf.

      »Ich denke, eine halbe Flasche für jeden reicht.«

      Hendrik bestellte zwei Tassen Espresso und verlangte die Rechnung.

      Als sie sich verabschiedeten, sagte die Bedienung an Hendrik gewandt: »Isch hoffe, Sie waren zufrieden, Monsieur …?«

      Hendrik musste lächeln. »Wilmut, Hendrik Wilmut. Ja, wir waren sehr zufrieden. Au revoir!«

      »Au revoir, Messieurs!«

      Als sie vor dem Restaurant standen, kam Hendrik eine vage Idee. Vielleicht hatte die frische Herbstluft seine Gedanken beflügelt. »Richard, mir ist da jemand eingefallen. Almuth Feller.«

      »Wer soll das sein?«

      »Sie arbeitet in unserer Dekanatsverwaltung und war früher in der Uni Gießen angestellt, im Büro des Instituts für Rechtsmedizin.«

      Richard schien zu ahnen, worauf Hendrik hinauswollte. »Hm. Wie gut kennst du sie?«

      »So gut, dass ich sie fragen kann.«

      »Okay, einen Versuch ist es wert. Falls es klappen sollte, müssen wir noch klären, wie die Leiche nach Gießen kommt. Aber eins nach dem anderen.«

      Sie verabschiedeten sich.

      »Übrigens, Richard, falls Almuth Feller das wissen will, wie hieß denn die getötete Frau?«

      »Das kann ich dir sagen, steht morgen sowieso in allen Zeitungen. Ihr Name ist Elisabeth Müller.«

      *

      Nikolaj Mestroff

      Frankfurt a. M., Mittwoch, den 8. Oktober, vormittags

      Hendrik Wilmut warf hin und wieder einen Blick auf seine Frau, die bewegungslos im Wohnzimmersessel kauerte und vor sich hin starrte. Sie hatte ihn gebeten, sie zunächst in Ruhe zu lassen. Sie wollte nichts essen, lediglich Tee trinken. Von Zeit zu Zeit öffnete sie die Balkontür, stellte sich für ein paar Minuten in die Herbstsonne, kam dann zurück und ließ sich erneut in den Sessel fallen.

      Es fiel Hendrik schwer, sie nicht anzusprechen, sie nicht zu berühren oder zu umarmen. Dennoch akzeptierte er ihren Wunsch. Sie musste sich offensichtlich erst wieder ans Leben gewöhnen, ans Lebendigsein, an innere und äußere Freiheit. Das verstand Hendrik. Auch wenn er zu gern wissen wollte, was in ihrem Kopf vorging, was sie dachte, was sie fühlte. Und die wichtigste Frage stand bislang aus: War ihr Verhältnis so innig wie zuvor? Einfacher ausgedrückt: Liebte sie ihn noch? Hendrik wollte das nicht in direkte Worte fassen, er war überzeugt, dass er es in den nächsten Tagen spüren würde.

      Der Professor hatte ihn ermahnt, sehr vorsichtig mit Hanna umzugehen. Jeder reagiere anders auf solch eine lange Zeit des Unbewusstseins. Manche Menschen seien sofort wieder da, wollten feiern, essen und trinken, andere müssten sich erst finden und wollten zunächst nichts zu sich nehmen, um all die Ereignisse – im wahrsten Sinne des Wortes – zu verdauen. Diese Phase könne Tage dauern, manchmal Wochen. Hendrik hatte ihm klarzumachen versucht, dass er sich verantwortlich fühle für Hanna, auch für die Vorgänge, die dazu geführt hatten, dass sie in den langen Schlaf gefallen war. Und er wolle das wieder gutmachen. Daraufhin hatte ihn der Professor ernst angesehen und gemeint, dass es jetzt nur um seine Frau ginge, nicht um ihn und seine Schuldgefühle. Die müsse er später aufarbeiten. Und übrigens, er solle ihr Hühnersuppe kochen.

      Hendrik hatte sich für den Rest der Woche Urlaub genommen. Das war nicht einfach gewesen, da sie sich kurz vor dem Beginn der Vorlesungszeit befanden, da gab es viel zu tun. Aber als er der Dekanin den Hintergrund erläuterte, stimmte sie sofort zu. Er musste viel organisieren, Besprechungen und Seminare verlegen oder Ersatzdozenten finden. Almuth Feller half ihm dabei. Hendrik nutzte die Gelegenheit, sie um einen Gefallen zu bitten, verbunden mit dem Hinweis, die Angelegenheit möglichst diskret zu behandeln. Sie hatte ihm verschwörerisch zugezwinkert und gemeint, das ginge klar. Sie habe gute Verbindungen nach Gießen, er solle ihr einfach die Telefonnummer des ermittelnden Beamten geben, damit sie diese weiterleiten könne. Gesagt, getan.

      Er ging in die Küche, schaltete das Radio an, räumte die Spülmaschine ein und erledigte ein paar alltägliche Handgriffe.

      Als er eine halbe Stunde später ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Hanna im Sessel eingeschlafen. Er hielt sein Ohr nahe an ihren Mund. Sie atmete tief und gleichmäßig. Alles in Ordnung, dachte er und deckte vorsichtig ihre Beine zu. Dann setzte er sich auf die Couch und versuchte, die Zeitung zu lesen. Schnell merkte er, dass er zwar die Buchstaben verfolgte, aber die Bedeutung der Worte nicht aufnahm. Die einzige Meldung, die zu ihm durchdrang, war die Nachricht über den Suizid einer jungen Frau in Wetzlar. Er faltete die Blätter zusammen und legte sie beiseite.

      Hendriks Gedanken schweiften zu Elisabeth Müller. Solange Hanna schlief, konnte er nachsehen, was die Medien dazu schrieben. Er ließ einen Espresso durchlaufen, nahm ihn mit ins Arbeitszimmer und fuhr den Rechner hoch.

      Die Offenbach-Post berichtete von der 68-jährigen Elisabeth M. aus Bürgel, die am Sonntag gegen 11.20 Uhr von ihrer Tochter Sonja M. tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden war. Die junge Frau war aus Mühlheim herübergekommen, um ihre Mutter zum Mittagessen abzuholen, und sagte aus, dass Elisabeth M. schon länger an einer Herzschwäche, einer sogenannten Herzinsuffizienz, gelitten habe. Sie habe ihr mehrmals geraten, eine Herzkatheteruntersuchung vornehmen zu lassen, aber die alte Dame habe sich nicht dazu durchringen können.

      »Sie haben Post!« Ein dicker gelber Balken erschien auf seinem Monitor und verschwand kurz darauf wieder. Die Neugier und der zeitgemäße Zwang, immer auf dem aktuellen Stand der Nachrichtenlage sein zu müssen, bewegten ihn dazu, seinen E-Mail-Eingang zu öffnen.

      Sehr geehrter Herr Dr. Wilmut,

      Sie haben über die Website www.dealer.by einen illegalen Download des Songs »Spanish Harlem« getätigt und sind uns dafür den Betrag von 5 Euro schuldig. Hinzukommt eine Strafgebühr von 400 Euro, zusammen 405 Euro. Ort: Trient, Hotel Albergo della Rosa. Zeit: Dienstag 9. September um 6.14 Uhr. Falls Sie nicht bis zum 12. Oktober den Betrag auf das unten aufgeführte Konto überweisen, müssen wir unser Inkassounternehmen beauftragen, Sie zu liquidieren. Antworten Sie uns umgehend, ob Sie bereit sind, die Zahlung zu leisten. Es hat keinen Sinn, die Polizei einzuschalten, unser Server steht in Weißrussland und ist von Deutschland aus nicht zu identifizieren.

      Mit freundlichen Grüßen

      Ihr Nikolaj Mestroff

      Hendrik gingen tausend Gedanken durch den Kopf und ebenso viele Gefühle wühlten ihn auf. Wut, Entrüstung, Selbstzweifel, Verunsicherung. Er sah nach dem Absender der E-Mail: [email protected]. Der selbsternannte belarussische Rechtsminister – lachhaft! Natürlich hatte Hendrik dieses Lied nie heruntergeladen. Oder hatte er es aus Versehen doch angeklickt? So etwas konnte bei all den Spam-Mails schon mal passieren. Aber sicher nicht von einem Hotelcomputer aus. Er hatte in Trient ja sein eigenes Tablet dabeigehabt. Und wenn, dann hätte er sicher nicht um 6.14 Uhr morgens im Internet gesurft. Da schlief er in aller Regel. Der Gedanke beruhigte ihn, sein Inneres fuhr auf Normalmodus herunter. Dennoch … es blitzte erneut durch seinen Kopf: Er war tatsächlich in Trient gewesen an diesem Tag. Mit seinem Taxifahrerfreund Eddie. In einem Hotel. Woher wusste dieser Mestroff das? Nicht zu fassen! Seine Gefühlswelt verdichtete sich zu Zorn und Abscheu. Egal, er würde nicht antworten, das war klar, dabei konnte man sich nur einen Virus einhandeln, und er würde erst recht

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