Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser страница 11

Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

Скачать книгу

menschlichen Handelns notwendig, möglichst alle anthropologischen Ansätze und humanwissenschaftlichen Disziplinen in die Suche nach einer Antwort einzubeziehen.“ (Bohlken u. Thies 2009, S. 5) Diese Modelle scheinen für unsere Studie gut zu passen (wie auch für lösungsorientierte Praktische Theologie insgesamt; s. oben S. 10). Darüber hinaus meint der Biologe und Philosoph Bertold Schweitzer,38 bei interdisziplinärem Arbeiten sei „die Erstellung eines integrierten Modells gefordert, das die von den verschiedenen Disziplinen untersuchten Komponenten eines Phänomens in einen geordneten Zusammenhang bringt, aus deren Zusammenspiel resultierende emergente Effekte berücksichtigt und Vorhersagen und Problemlösungen ermöglicht“ (Schweitzer 2010, S. 123). Es ist anzunehmen, dass gerade aus dem Zusammenspiel anthropologischer, ethischer, psychotherapeutischer, versorgungs- und sozialwissenschaftlicher sowie theologischer Perspektiven Effekte und mögliche Lösungen unseres Themas aufscheinen können.

      Interdisziplinäre Öffnungen Richtung Geisteswissenschaften gibt es auch von psychiatrischer Seite. Der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs sieht die Psychiatrie im „Spannungsfeld zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, zwischen subjekt-orientierter Erlebenswissenschaft einerseits und objektivierender Neurowissenschaft andererseits.“ (Fuchs 2010, S. 235) Arthur Kleinman bewertet biologisch orientierte psychiatrische Forschung als notwendig, aber nicht hinreichend für eine verlässliche akademische Psychiatrie und ihr Verständnis und die Behandlung schwerer seelischer Störungen – sie brauche u. a. auch psychosoziale, kulturelle, klinische und versorgungswissenschaftliche Studien und dafür den Kontakt zu Sozial- und Verhaltenswissenschaften (vgl. Kleinman 2012, S. 421 f.) James K. Boehnlein unterstreicht ebenso den kulturellen Aspekt (cultural psychiatry): Um die volle Spanne menschlichen – ggf. pathologischen – Erlebens und Verhaltens zu verstehen, habe die Psychiatrie oft über den naturwissenschaftlichen Bereich hinausgehen müssen in philosophische Gefilde, auch religiöse und spirituelle Bezugsrahmen seien als komplementär zu integrieren (vgl. Boehnlein 2006, S. 634 f.). Es gebe eine Konvergenz von Biowissenschaften, Sozial- und Geisteswissenschaften zum vollen Verstehen menschlicher Identität und Bezüge in ihrer Komplexität, über alle Kulturen und Glaubensrichtungen hinweg (vgl. ebd., S. 646).39

      Was heißt Interdisziplinarität für die Theologie? Nach Norbert Mette betreibt die Theologie interdisziplinäres Denken „dort, wo sie – um einer zeitgemäßen Darlegung des chr. Glaubens willen – ihre hergebrachten Voraussetzungen im Gespräch mit anderen Wiss. befragen läßt u. überdenkt sowie umgekehrt – um des Wohls u. Heils der Menschen willen –, die v. ihr aufbewahrten unabgegoltenen, krit. u. frei machenden Erinnerungen in den wiss. Diskurs einzubringen versucht.“ (Mette 1996, Sp. 557 f.) Dies zu tun bemüht sich diese Studie an einem konkreten Thema und möchte damit im doppelten Sinne „gute Theologie“ bieten. Eine Theologie, die etwas einbringt, das allen nützt: „Johannes XXIII. hat die Kirche mit einem alten Brunnen im Dorf verglichen, der gutes Wasser spendet. Dieses Bild scheint mir auch für eine gute Theologie passend zu sein.“ (Siebenrock 2003, S. 126) Und eine Theologie, die einen vitalen Kontextbezug aufweist: „Wer mithin sachgemäß Theologie treiben möchte, kommt nicht umhin, sich in Zeitgenossenschaft den Fragen und Impulsen der jeweiligen Situation zu stellen. Nur eine solche Theologie ist sachgemäß und damit zugleich zeitgemäß, ohne modischen Anpassungen zu verfallen.“ (Sievernich 2003, S. 227)

      Klaus Kießling unterstreicht für das interdisziplinäre Gespräch den Bedarf sowohl des Eigenstands der beteiligten Disziplinen als auch von Kriterien für ihren Austausch (vgl. Kießling 2005, S. 124). Im Blick darauf benennt er grundlegende theologische Prinzipien: Schöpfungstheologisch kann „die Autonomie empirischer Erkenntnisse“ gewürdigt werden (vgl. ebd.).40 Die „Zuordnung von ‚profanen‘ Wissenschaften und Theologie“ lasse sich analog zu den christologischen Prinzipien des Konzils von Chalcedon (unvermischt und ungetrennt) beschreiben – also weder „monophysitische“ Vermischung noch „nestorianische“ Aufspaltung ohne Interdisziplinarität (vgl. ebd., S. 125). In einem pneumatologischen Zugang schließlich könne man ausgehen „von einem Geist, der menschliche Erkenntnisse sowohl als solche anzunehmen als auch zu radikalisieren vermag auf ihr letztes Ziel und ihre Vollendung hin.“ (ebd.) In diesem Kontext ist für unsere theologischen Teile Max Secklers Hinweis bedeutsam, dass die Gottesfrage das umfassende und grundlegende Formalprinzip der Theologie sei – unter Verweis auf Thomas von Aquin, der betone, „daß in der Theologie alle Themen in Ansehung Gottes (sub ratione Dei) zu behandeln sind, sei es, daß diese Themen Gott selbst direkt betreffen, sei es, daß sie eine Beziehung zu Gott als der alles bestimmenden Macht aufweisen.“ (Seckler 1988, S. 181)41

      Für interdisziplinäre Gesprächsfähigkeit wichtig ist der sogenannte methodische Atheismus, den Hans-Günter Heimbrock so beschreibt: Er zielt „nicht auf eine generelle Verneinung des Gottesglaubens, sondern nur auf die Suspendierung spezieller religiöser Voraussetzungen auf Seiten des Forschers für die wissenschaftliche Wirklichkeitserkenntnis. Mit dem Prinzip soll Wissenschaft gegen unüberprüfbar autoritäre Setzungen und irrationale Meinungen gesichert werden.“ (Heimbrock 2007, S. 48)42 Dem folgt unser empirischer Beitrag. Dabei sollte man aber nicht stehen bleiben – Heimbrock ergänzt: „Von der Theologie her geht es dabei heute aber nicht um eine heimliche oder offene Verwässerung empirischer Forschung, nicht um weniger, sondern um mehr als ‚harte‘ Empirie.“ (ebd., S. 51) Es bleibe nämlich „die Frage:

      Wie verhalten sich wissenschaftlich erhobene Daten von empirischer Einzelforschung zum Gesamtverständnis von Wirklichkeit.“ (ebd.) Denn wie „über Wirklichkeit und Leben gedacht“ werde, beeinflusse „in hohem Maße auch den praktischen Umgang mit Menschen“ (vgl. ebd., S. 59). Solch ein Gesamtverständnis wird in unserer Studie v. a. anthropologisch bedacht.

      Der Theologe Richard Schröder gibt zu bedenken, dass man naturwissenschaftlichen Methoden – d. h. auch empirischen – keine „Allerklärungskompetenz“ zuschreiben dürfe. Themen wie etwa Gerechtigkeit, Frieden oder Freiheit und „unser gelebtes Selbstverständnis mitsamt unseren lebensweltlichen Erfahrungen und lebensleitenden Überzeugungen“ bräuchten „andere Weisen des Wissens“ (vgl. Schröder 2011, S. 56) f.).43 Dabei erinnert er daran, „dass jenseits der naturwissenschaftlichen Forschung nicht das freie Feld des wilden Mutmaßens beginnt, sondern auch dort die Sorgfalt des Denkens, der Wahrnehmung und des Unterscheidens unerlässlich ist.“ (ebd., S. 9) Wolfgang Schoberth verweist auf den notwendigen methodischen Reduktionismus von Wissenschaften, der mit Erfolg komplexe Wirklichkeiten auf einzelne Phänomene und Faktoren reduziere – das Menschsein als mannigfaltiges Ganzes sei damit aber noch nicht hinreichend erfasst (vgl. Schoberth 2006, S. 15) u. 134).44 Thema der Anthropologie sei nun „nicht ‚der Mensch‘, sondern der Diskurs über den Menschen“, gerade weil die unterschiedlichen „Vorstellungen vom Menschsein“ unser Handeln mit bestimmten (vgl. ebd., S. 83). Christian Thies und Eike Bohlken stellen sich eine integrative Anthropologie vor, die Ansätze für disziplinübergreifende Projekte biete wie auch kritisch gegen übertriebene „Alleinvertretungs- oder Letztbegründungsansprüche“ einzelner Disziplinen stehe: „Als zentraler Richtpunkt dient ihr die in offenen Leitbegriffen anzudeutende Mehrschichtigkeit und Vieldimensionalität der Menschen, die Raum lässt für universale und partikulare Merkmale und Praktiken.“ (Bohlken u. Thies 2009, S. 6) f.) Und damit auch für die Dimension von Religiosität bzw. Spiritualität. Nach Thies kann (philosophische) Anthropologie Orientierungswissen bieten, d. h. „begründete und systematisierte Einsichten, die helfen können, sich in einer unübersichtlichen, vieldeutigen Welt zurechtzufinden. Das gilt vor allem für wichtige Handlungsbereiche wie Medizin, Pädagogik und Politik.“ (Thies 2004, S. 11)45

      Der Psychologe Jürgen Kriz hält im Blick auf Psychotherapie die zugrunde liegenden Denkmodelle für sehr wichtig: „Die Fragen danach, wie wir leben wollen, was wir für wesentlich erachten, aus welchem Bild vom Menschen wir die Maximen unseres Handelns ableiten, etc. betreffen daher nicht nur das therapeutische Handeln selbst, sondern auch dessen Erforschung.“ (Kriz 2012, S. 29) Aus medizinethischer Sicht meint Ulrich H. J. Körtner, „Medizin, Pflege, Philosophie und Theologie“ müssten „stärker miteinander ins

Скачать книгу