Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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und destruktive Schleifen mit evtl. pathologischen Folgen (ebd., S. 71) f.). In der therapeutischen Arbeit mit Patienten, die scheinbar alles Religiöse weit hinter sich gelassen hätten, die widerwillig oder „höhnisch auf Fragen nach einer religiösen Vorgeschichte“ antworteten, entdecke er zum Teil, dass „die Abkehr von Religion […] keine wirkliche Erledigung oder Trennung“ war, sondern eher „einer Verschüttung“ gleiche, einer „Unterbringung Gottes oder der eigenen Frömmigkeit in einer schwer zugänglichen seelischen Deponie“, wobei er als Therapeut die Ahnung habe, „dass unter den wackelig gewordenen Fundamenten der Hilfe suchenden Person Gottesteile modern“ – dann gehe es „um eine Begegnung und Aussöhnung mit einer Gottes- oder Kirchenbeziehung“ (ebd., S. 72) f.).

      Das Einleitungskapitel des Handbuchs Spirituality in psychiatry des Royal College of Psychiatrists meint ganz anschaulich und mit britischem Charme: Spiritualität samt ihren psychologischen Aspekten sei für alle Psychiater relevant, nicht als Zusatz in einem ohnehin überfüllten Curriculum, sondern als Gedanke im Hinterkopf, der manchmal auch weiter nach vorne komme (vgl. Sims u. Cook 2009, S. 1). Psychiater und andere Profis im Dienst der seelischen Gesundheit müssten „zweisprachig“ sein, die Sprache von Psychiatrie und Psychologie wie auch die „Sprache“ von Spiritualität fließend beherrschen, die mit Themen wie Sinn, Hoffnung, Werten, Verbundenheit und Transzendenz zu tun habe – und wie jede Sprache brauche diese ebenfalls Übung (vgl. ebd., S. 14).

      Der Psychiater Thomas Reuster spricht vom therapeutischen Bemühen, Patienten als individuellen Personen gerecht zu werden:

      Psychotherapeuten haben den Ehrgeiz, ihren Patienten gerecht zu werden. […] Die Psychotherapeuten (vor allem tiefenpsychologischer Provenienz) glauben […], dem Patienten als Person und als psychische Einheit gerecht werden zu sollen. Sie wollen nicht ein bißchen verstehen, sondern möglichst ganz verstehen. Sie möchten weniger einem Problem, sondern einem Problem dieses Menschen gerecht werden. Dabei zeigen sie Teilnahme, Empathie, Solidarität. (Reuster 1999, S. 69)

      Diesem Anspruch könne man natürlich auch bei bestem Bemühen nie ganz entsprechen, es gebe viele Möglichkeiten, falsch zu liegen oder sonst etwas schuldig zu bleiben (vgl. ebd., S. 70).

      Für die DGPPN beinhaltet Gerechtigkeit u. a. „die faire Berücksichtigung sämtlicher individueller Besonderheiten in der Behandlung“ (vgl. DGPPN 2012b, S. 2).11 Mathias Berger spricht von der „Kunst der komplementären Beziehungsgestaltung“ und der hohen Relevanz einer idiographischen, „auf den einzelnen Patienten zugeschnittene[n] Vorgehensweise des Therapeuten“ (Berger 2013, S. 64).12 Giovanni Maio betrachtet in medizinethischer Sicht Krankenbehandlung als Dienst „für einen ganzen Menschen in all den vielfältigen Facetten seiner einzigartigen Lebensgeschichte.“ (Maio 2012, S. 395)13 Speziell für unser Thema zieht Klaus Baumann die Schlussfolgerung: Spirituelle Bedürfnisse und religiösen Glauben von Patienten in Psychiatrie und Psychotherapie zu respektieren und wertzuschätzen sei ein wichtiger Schritt, um den Patienten selbst, ihrer menschlichen Würde und ihrem inneren Leben gerechter zu werden (vgl. Baumann 2012, S. 114).14

      Warum kümmert sich eine caritaswissenschaftliche Studie um dieses Themenfeld? Menschen mehr gerecht werden lautet der Titel dieser Arbeit: Einsatz für Gerechtigkeit ist ein zentrales Anliegen der Bergpredigt und für das Christsein von höchster Priorität (vgl. Schockenhoff 2014, S. 193). Christliche Ethik ist dabei „keine religiöse Sondermoral“, sondern lehrt

      eine vernunftbegründete Moral des vollen, unverkürzten Menschseins, in deren Zentrum die Sorge um das Wohlergehen der Person und die Entfaltung ihrer Existenzmöglichkeiten steht. Der Einsatz der Christen für die größere Gerechtigkeit im Sinne Jesu führt nicht zu einer anderen oder besseren Moral, sondern dazu, dass Christen sich durch ein besonderes Engagement für alles auszeichnen, was nach menschlichen Maßstäben erstrebenswert und gut ist. (ebd., S. 193 f.)

      Das biblische Verständnis von Gerechtigkeit meint nach Dietrich Ritschl gleichwohl mehr als nur Symmetrie, Ausgleich und Balance,15 sondern „gelingendes Leben“, „das Gesamt der lebensfördernden, heilenden Beziehungen“ (vgl. Ritschl 1991, S. 88). „Diese ‚neue Gerechtigkeit‘ verknüpft den symmetrischen Ausgleich mit Barmherzigkeit für den Bedürftigen und Zuspätgekommenen.“ (ebd., S. 89) Solch eine Option als tragender Beweg- und Hintergrund dürfte mit den oben genannten psychiatrischen und psychotherapeutischen Anliegen durchaus konvergieren. Benedikt XVI. beschreibt in seiner Enzyklika Caritas in veritate eine zentrale Verbindung von Caritas und Gerechtigkeit:

      Wer den anderen mit Nächstenliebe begegnet, ist vor allem gerecht zu ihnen. Die Gerechtigkeit ist der Liebe nicht nur in keiner Weise fremd, sie ist nicht nur kein alternativer oder paralleler Weg zur ihr: Die Gerechtigkeit ist untrennbar mit der Liebe verbunden, sie ist ein ihr innewohnendes Element. Die Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe oder – wie Paul VI. sagte – ihr „Mindestmaß“ […]. Die Nächstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert. (Benedikt XVI. 2009, Nr. 6)

      Demnach dürfte es – zumindest „anonym“ oder unbewusst – mit Gott zu tun haben und in seinem Sinne sein, wenn man danach sucht, Patientinnen und Patienten noch besser gerecht zu werden.

      Caritaswissenschaft darf und will keine ungebührliche Einmischung auf fremdem Terrain betreiben. Psychiatrie und Psychotherapie sind ein eigener und autonomer Bereich, den die Theologie selbstverständlich achtet und respektiert.16 Sie will auch niemand vereinnahmen.17 Sie hat jedoch mit ihrer wissenschaftlich begründeten Perspektive Wichtiges in die Diskussion einzubringen. Der Bedarf an solch interdisziplinärem Dialog mit den Geisteswissenschaften wird da und dort auch von psychiatrischer Seite angemeldet.18

      Die Caritaswissenschaft hat einen sehr komplexen wissenschaftlichen Gegenstand: Dieser schließe u. a. „den leidenden und den helfenden Menschen sowie die Art und Qualität ihrer Beziehung ein“.19 Ihre Arbeit erfolge in drei Schritten: Sie möchte „Theorie und Praxis von Caritas und Christlicher Sozialarbeit aus unterschiedlichen Perspektiven und Fragestellungen heraus“ 1. beschreiben, 2. erklären und 3. fördern bzw. konstruktiv verändern, wofür eine reflektierte Interdisziplinarität notwendig sei (vgl. Baumann 2015, S. 143).

      Sie ist darin der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils verpflichtet: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (Gaudium et spes, Nr. 1) In dieser Solidarität ist ein umfassender Horizont gefordert: „Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch also, der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.“ (ebd., Nr. 3) Die Brücke zum Thema und Anliegen unserer Studie ist leicht zu schlagen. Die Ausführungen des Konzils zum karitativen Tun in Apostolicam actuositatem Nr. 8 mit dem Blick auf Menschen, die „von Drangsal und Krankheit gequält werden“, der Rücksicht „auf die personale Freiheit und Würde“, den vorausgehenden „Forderungen der Gerechtigkeit“, der Förderung der Selbsthilfe und Eigenständigkeit20 und der Zusammenarbeit „mit allen Menschen guten Willens“ (vgl. Apostolicam actuositatem, Nr. 8) sind eine weitere Orientierung. In dieser Richtung formuliert die Deutsche Bischofskonferenz: „Die Caritas meint den ganzen Menschen einschließlich seiner existentiellen Ängste und Sehnsüchte und Fragen und reduziert ihn nicht auf materielle Bedürfnisse.“ (Die deutschen Bischöfe 1999, S. 16)

      Warum aber Caritas, also Nächstenliebe? Reicht nicht kompetente soziale oder therapeutische Hilfe? Benedikt XVI. betont in seiner Enzyklika Deus caritas est,

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