Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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Anlass sein für theologisches Nachdenken, für das Neu-Beachten oder die Neu-Interpretation von Glaubensthemen. Gute Theologie braucht „theologische Orte“ (loci theologici): Quellen und Fundstellen für Erkenntnis und ihre Vermittlung ins Heute.

      Die Loci unterscheiden zwischen konstituierenden und interpretierenden Orten der Offenbarung. Sie entwickeln also eine geordnete Rangordnung der Quellen der Theologie. Bei den interpretierenden wird zwischen eigenen und fremden, also zwischen innen und außen unterschieden. Dabei ist die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden nicht hierarchisch in dem Sinne zu verstehen, als ob die fremden nachträglich oder gar verzichtbar wären. (Siebenrock 2003, S. 126)

      Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse können zu den sogenannten „fremden“ Orten (loci alieni)28 gezählt werden, die eine interpretierende Funktion bekommen. Nach Stephanie Klein hat die Reflexion des im Alltag gelebten Glaubens „eine unverzichtbare theologische Relevanz. Sie konfrontiert Exegese und systematische Disziplinen mit Glaubensdeutungen und -praxis der Menschen vor Ort und arbeitet an einer Kirchengeschichtsschreibung ‚von unten‘ mit.“ (Klein 1999b, S. 258)29

      Jürgen Werbick spricht von Lernprozessen, bei denen PT mit ihren empirischen Untersuchungen im Dienst der „Kommunikation des Evangeliums“ eine „zu optimierende kritische Korrelation zwischen christlicher Zeugnisüberlieferung und gelebter, impliziter oder expliziter Religiosität“ im Blick hat, „wobei unter gelebter Religiosität hier alle Zeugnisse (»living documents«) einer »aufs Ganze gehenden« Lebensorientierung und Identitätsausrichtung verstanden werden dürfen.“ (Werbick 2015, S. 525) Entsprechend weit ist unsere Studie angelegt. Für die Theologie – und hier etwa auch eine verantwortete Klinikseelsorge – geht es um „Wege, auf denen man lernen kann, mit der gegebenen Situation »produktiv« umzugehen und so auch Möglichkeiten zu erschließen, das in den Zeugnissen der biblischchristlichen Überlieferung Bezeugte heute als schlechthin verheißungsvolle Lebens-Herausforderung zu bezeugen.“ (ebd.)

      Im Lexikon der Geisteswissenschaften definiert Wolfgang Jordan Erkenntnisinteresse als „eine allgemeine Zwecksetzung im Erkenntnisvermögen des Menschen, die zu einer Strukturierung des erkannten Gegenstands führt.“ (Jordan 2011, S. 141) In diesem Kontext würden dann u. a. Fragen von Wahrheit und Ideologie erörtert (vgl. ebd.): Kann und will der Mensch wirklich Wahrheit erkennen? Jede Forschung hat primär mit Erkenntnisinteressen und möglicherweise mit weiteren, sekundären – im schlechtesten Fall egoistischen – Interessen zu tun. Das von Norbert Mette und Johannes Steinkamp beschriebene „Paradigma der konvergierenden Optionen“ (Mette u. Steinkamp 1983, S. 170)–172) in Bezug auf die „Interaktion zwischen Humanwissenschaften und Theologie“ trägt dem wissenschaftstheoretischen Grundsatz Rechnung, „daß jeder Erkenntnis- und Forschungsprozeß von Interessen bzw. Optionen geleitet ist (im Sinne der Dialektik von Erkenntnis und Interesse)“ (ebd., S. 170). Wir sprachen bereits oben von Interessen und Anliegen etwa der Psychiatrie, der Psychotherapie, der Praktischen Theologie und Caritaswissenschaft. Es ist berechtigt, diese kritisch zu überprüfen: „Wer heute den ›Menschen‹ (Menschlichkeit, Humanität) beschwört, steht deshalb noch nicht außerhalb aller weltanschaulichen Interessen. Auch hier gilt die ideologiekritische Frage: cui bono.“ (Arlt 2001, S. 11) f.)

      Roy F. Baumeister hält es für wesentlich, religionspsychologische Forschung nicht Zeloten zu überlassen: „it is essential that religion be studied in a balanced, open-minded, objective fashion rather than being left to the pro-religious and antireligious zealots who are seeking to support predetermined conclusions.“ (Baumeister 2002, S. 165) Dem ist voll zuzustimmen. Das Einleitungskapitel des bereits genannten APA-Handbuchs sieht Religion und Spiritualität für viele Menschen mit großem Einfluss (power) verbunden, darum ließe das Thema die wenigsten kalt und löse auch bei Wissenschaftlern Emotionen aus – statt Dialog über solch wichtige und emotional aufgeladene Bereiche folgten darum leider oft entweder Schweigen oder vorgefasste Meinungen und Provokationen (vgl. Pargament et al. 2013a, S. 3). Jacob A. Belzen warnt die Religionspsychologie vor dem (evtl. unbewussten) Bedürfnis, bestimmte Ergebnisse und Schlussfolgerungen zu präsentieren, die aus der Sympathie für eine bestimmte Weltsicht oder Religion resultierten (vgl. Belzen 2009a, S. 212). Man müsse lernen, der Subjektivität von Studienteilnehmern mit so viel Aufmerksamkeit zu begegnen und nach dem psychologisch Relevanten zu suchen, wie man es in der Psychotherapie tun würde – und bei alledem genauso sein privates Urteil zurückzustellen (vgl. ebd., S. 220).30 In der Tat, eine solche Klarheit und reflektierte Neutralität ist unabdingbar.

      Die nötige Transparenz und eine berechtigte Vorsicht sind jedoch zu unterscheiden von unfairen Verdächtigungen. Der Weg von kritischer Sicht hin zu Verdacht oder gar Vorurteilen ist manchmal nicht weit. Matthias Richard vermutet, religionspsychologische Forschung sei in Deutschland unter anderem deshalb selten, weil „dem Forscher schnell unterstellt wird, den Inhalt einer religiösen Aussage belegen zu wollen und damit ‚weltanschaulich gebunden‘ zu sein.“ (Richard 2004, S. 131) Peter J. Verhagen sieht die im Bereich von Psychiatrie und Religion forschenden Wissenschaftler unter dem Verdikt stehend, religiös stark interessiert zu sein. Sie würden damit eines Interessenkonfliktes beschuldigt, und man fürchte eine Evangelisierung von Patienten und die Gefahr der Verletzung therapeutischer Grenzen (vgl. Verhagen 2012, S. 355). Prominent haben das etwa in Großbritannien die Psychiater Rob Poole und Robert Higgo vertreten, die bei einigen Forschern einen Interessenkonflikt in Form eines starken religiösen Glaubens oder einer formalen religiösen Rolle annehmen (vgl. Poole u. Higgo 2011, S. 26).31 Fiona Timmins et al. haben den Eindruck, Forscher zu Religion und Spiritualität würden bereits aufgrund ihres Themas höheren Standards und Erwartungen unterworfen als andere Forscher (vgl. Timmins et al. 2016, S. 4). Niedrigere Standards sollten es aber keinesfalls sein.

      Benannt werden müsste in diesem Kontext auch eine gegenteilige Tendenz. Klaus Baumann verwies auf Tendenzen zu wissenschaftlichem (Neo-)Positivismus, Materialismus und Empirizismus, die in den Neurowissenschaften, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapien verbreitet seien. Professionelle Neutralität dürfe aber nicht als „wertfreie“ Wissenschaft konzipiert werden wie vom Empirizismus behauptet, der aber selber mit zumindest impliziten ideologischen Optionen und Wertentscheidungen geladen sei – gegen Metaphysik und Religion und zugunsten von materialistischem Reduktionismus (vgl. Baumann 2012, S. 107) f.).32 Weder ein unwissenschaftlicher generell negativer Bias noch eine unkritisch positive Haltung zu Religiosität bzw. Spiritualität seien wünschenswert (vgl. ebd., S. 112). Gleichwohl sei radikaler Reduktionismus generell eine Versuchung für die Psychologie – und Religion für reduktionistische „Nichtsals“-Erklärungen gefährdeter als andere menschliche Phänomene, meint K. I. Pargament unter Berufung auf den namhaften Religionspsychologen David M. Wulff (1996) (vgl. Pargament 2002a, S. 243).

      Sowohl die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF 2010b) wie das Deutsche Netzwerk evidenzbasierte Medizin (2011) gaben Empfehlungen zum Umgang mit möglichen Interessenkonflikten und damit der Verringerung von Bias (dt.: einseitige Neigung, Voreingenommenheit, systematischer Fehler). Beide Organisationen stützen sich auf ein international rezipiertes Bias-Risiko-Konzept von Interessenkonflikt, das von Dennis F. Thompson und Ezekiel J. Emanuel entwickelt wurde und in die Konzeption des Institute of Medicine (US) eingeflossen ist: „Conflicts of interest are defined as circumstances that create a risk that professional judgments or actions regarding a primary interest will be unduly influenced by a secondary interest.“ (Lo u. Field 2009, S. 6).33 Interessenkonflikte sollten nicht „mit mangelnder Integrität einer Person gleichgesetzt werden“ – integer bezeichne als personale Eigenschaft Personen, die „nicht durch Fehlverhalten oder Korruption aufgefallen sind“ und dafür künftig keine hohe Wahrscheinlichkeit haben (vgl. Deutsches Netzwerk evidenzbasierte Medizin 2011, S. 7). Ein vorliegender Interessenkonflikt solle auch nicht „mit der Unterstellung einer verzerrten Entscheidung gleichgesetzt“ werden;

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