Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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after all, belongs to their sphere of work.“ (Verhagen et al. 2010, S. xvii) Das Handbuch möchte Neugier wecken für die Schnittstelle zwischen „psychiatry and man’s tendency to provide life with a vertical transcendental dimension.“ (ebd.)

      Die Bewältigung von schweren psychischen Störungen ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung ersetzt dabei nicht das, was eine Person selbst zum Umgang mit ihrem Problem beitragen kann und muss. Allgemein spricht man hier von der persönlichen Krankheitsverarbeitung oder -bewältigung, die Fritz A. Muthny und Jürgen Bengel im Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie so definieren:

      Die Belastungen setzen einen komplexen Verarbeitungsprozess in Gang (Krankheitsverarbeitung oder -bewältigung, Coping). Der Betroffene bewertet die Bedrohung durch die Krankheit und prüft, welche personalen und sozialen Ressourcen helfen, die Belastung zu mindern. Krankheitsverarbeitung ist nach Heim (1986) ‚das Bemühen, bereits bestehende oder erwartete Belastungen durch die Krankheit innerpsychisch (emotional/kognitiv) oder durch zielgerichtetes Handeln aufzufangen, auszugleichen, zu meistern oder zu verarbeiten‘. (Muthny u. Bengel 2009, S. 359)

      Nach Erfahrung der Autoren stoße dieses Thema „bei Ärzten wie Pflegepersonal gleichermaßen auf großes Interesse“ und trage „viel zum Verständnis von Patienten bei.“ (vgl. ebd., S. 366) Zum Erleben und Verhalten gehört bei schweren Erkrankungen zumindest für einen Teil der Patienten auch die religiöse bzw. spirituelle Ebene mit vielerlei Aspekten, die in der Bewältigung eine Rolle spielen können: Fragen, Ringen, Suchen, Handeln und evtl. Erfahrungen von Beziehung mit anderen und dem Größeren (Transzendenten), von Halt oder Sinn.

      Das Ziel einer Behandlung ist in der Regel die Wiederherstellung der Gesundheit, oft aber auch eine Genesung, die mit evtl. bleibenden Einschränkungen möglichst gesund umgehen kann. Heutige Definitionen von Gesundheit tragen dem Rechnung:

      Im Anschluss an den französischen Medizintheoretiker Georges Canguilhem wird Gesundheit heute von Philosophen, Theologen und Medizinern als die Fähigkeit verstanden, auch Einbußen und Störungen der Gesundheit zu ertragen und durch ihre Integration in das eigene Lebenskonzept zu einer neuen »Norm des Lebens« im Sinne eines neuen Gleichgewichtes zu finden. (Schockenhoff 2009, S. 310) f.)8

      Genesung im Sinne von „gut leben können“ mit bleibenden psychischen Problemen wird z. B. auch im Recovery-Ansatz ausdrücklich beschrieben (vgl. dazu Abschn. 3.2.6). Dazu bedarf es neben dem Abbau von Problemen auch der Aufmerksamkeit für vorhandene Ressourcen, welche sich für eine positive Bewältigung aktivieren oder verstärken lassen. Die persönliche Religiosität bzw. Spiritualität können dazu gehören – ohne sie deshalb für die Gesundheit komplett verzwecken zu wollen.9

      Psychologie wie auch Psychiatrie haben ein Interesse, mit ihrem Tun positiv für menschliches Leben zu wirken: für Humanität, Heilung, die Entfaltung von Lebensmöglichkeiten. Mit dieser Option treffen sie sich mit der Caritas wie auch der Praktischen Theologie (dazu mehr in Abschn. 1.4). Nach Jacob A. Belzen ist Psychologie nicht wertneutral, sondern sie engagiere sich für die Förderung menschlichen Wohlergehens (human welfare) – wobei es freilich keinen Konsens gebe, worin dieses bestehe (vgl. Belzen 2009a, S. 207). Bernhard Grom versteht Religionspsychologie als „engagierte Wissenschaft“:

      Aufgrund ihrer psychohygienisch-therapeutischen Grundausrichtung muss sich die Psychologie für das psychische Wohlbefinden und eine günstige Persönlichkeitsentwicklung der Menschen verantwortlich fühlen; darum soll die Religionspsychologie auch ermitteln, welche religiösen Einstellungen das Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen oder fördern. (Grom 2007, S. 14)

      In diesem Sinne will auch das bereits genannte APA-Handbuch mit einer größeren Beachtung der religiösen bzw. spirituellen Dimension dazu beitragen, die conditio humana zu verbessern: „Greater attention to the religious and spiritual dimension, we firmly believe, can enrich and vitalize our efforts to understand and enhance the human condition.“ (Pargament et al. 2013b, S. 18)

      Der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell (vormals Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich) gibt dem Zusammenwirken psychiatrisch-psychotherapeutischer Konzepte und spirituell-religiöser Konzeptionen die Überschrift „Differenzierung statt Spaltung“ (Hell 2013, S. 18). Im Blick auf Not und „Unheilsein des Menschen“ sagt er: „Psychotherapie und Seelsorge gehen nicht ineinander auf und sollten meines Erachtens nicht vermischt werden; sie lassen sich in der Praxis aber auch nicht völlig trennen.“ (ebd., S. 19) Unvermischt und ungetrennt – ein in der Theologie langbewährtes Prinzip! Hell sieht in solcher Rückbesinnung keinen „Gegensatz zur neurowissenschaftlichen Forschung“:

      Je mehr wir über das Gehirn lernen, desto mehr erkennen wir auch den Einfluss von Lebensumständen und Erziehung auf Gehirnfunktionen und Gehirnstruktur. Wir werden von unserem Gehirn nicht nur gesteuert, sondern wir verändern unser Gehirn ebenso durch gezieltes Üben und durch bewusste Lebensführung. Offenbar ist die Zeit reif, menschliche Grundhaltungen und kulturelle wie individuelle Wertvorstellungen wieder ernster zu nehmen. Dazu gehören auch spirituelle und religiöse Fragen, die in Psychiatrie und Psychotherapie lange tabuisiert wurden. (ebd., S. 20)

      Seiner Folgerung für die Psychiatrie und Psychotherapie kann man gut zustimmen: „Es gilt, die spirituelle Dimension ernst zu nehmen, ohne gleichzeitig die kritisch-wissenschaftliche Haltung aufzugeben.“ (ebd.) Ähnlich plädiert Peter J. Verhagen dafür, dass Wissenschaft und Religion nicht von vornherein als Gegner und Todfeinde zu betrachten seien, sondern Verbündete sein könnten gegen Nonsens und Aberglaube (vgl. Verhagen 2012, S. 356), es brauche dafür vernünftige Qualitätskriterien für die Reflexion und Haltung zu Psychiatrie und Religion – zugunsten der seelischen Gesundheit und zum Wohle aller (vgl. ebd., S. 357).

      Zwei prominente Stimmen zur Psychotherapie sollen noch zu Wort kommen. Jacob A. Belzen sieht eine Analogie im therapeutischen Umgang zwischen dem Bereich Religiosität/Spiritualität und dem Bereich Sexualität: Psychologen wüssten, wie wichtig und schwierig es sein könne, in professioneller Weise über diesen Lebensbereich zu sprechen. Sie sollten sensibel sein für die jeweilige Relevanz, empathisch zuhören, sich Urteilen und Bewertungen enthalten, Fachwissen besitzen … Psychotherapeuten dürften hier so wenig ihre Klienten anleiten wie darin, wie sie ihr Geld ausgeben oder wohin sie in Urlaub fahren sollten. Aber während Therapeuten ausgebildet seien, über solch profane Themen wie finanzielles, sexuelles oder Ess-Verhalten zu reden, sei kaum jemand ausgebildet, mit moralischen, ethischen, religiösen und spirituellen Themen professionell umzugehen – eine analoge Qualität an Ausbildung für den Umgang mit diesen Themen lege sich darum nahe (vgl. Belzen 2004, S. 296).10

      Der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser hat 27 Jahre nach seinem sehr bekannt gewordenen Buch Gottesvergiftung (1976) eine aktualisierte Sicht vorgelegt: Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott (2003). Darin legt er Psychotherapeuten nahe, „nach zwei Richtungen wachsam“ zu sein: einerseits für „ den düsteren Gott hinter einer Depression oder einer Angstneurose“, andererseits für die „Entdeckung einer religiösen »Substanz«, in welcher Form auch immer, die einen tragenden Grund bedeuten kann“. Deshalb sollten sie in ihren „Deutungen eher sehr zurückhaltend sein, um nicht ungewollt zerstörerisch zu wirken.“ (ebd., S. 11) Er sieht in „Gottesvergiftungen“ eine „sehr primitive Theologie am Werk“, „die Gott als Instrument der Erziehung und der Einschüchterung benutzt hat.“ (ebd., S. 23) Andererseits entdeckte er ein positives menschliches Grundgefühl, das er „Fähigkeit zur Andacht“ nennt (vgl. ebd.). Ihr komme in der kindlichen Entwicklung „eine wichtige Bedeutung für den Aufbau ihrer seelischen Welt“ zu. Es sei dann „entscheidend, wie diese Fähigkeit zur Andacht aufgenommen

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