Menschen mehr gerecht werden. Franz Reiser

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Menschen mehr gerecht werden - Franz Reiser Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral

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ja „um Menschen, und Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit. Sie brauchen die Zuwendung des Herzens.“ (ebd., Nr. 31) Mathias Berger, vormals Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Freiburg, spricht im Kontext einer therapeutisch individuell angepassten Beziehungsgestaltung von der Forderung, „dass ein Therapeut seine Patienten mit so viel Engagement und Empathie behandeln sollte wie er es bei einem Familienangehörigen täte“ oder – auf ein Zitat Friedrichs II. zurückgreifend – „ex amore“ (vgl. Berger 2013, S. 64).

      Praktische Theologie (PT) will dem Menschen dienen. Ihr Ziel ist, wie das Handbuch praktische Theologie sagt, „der Mensch in seinem Menschsein-Können, d. h. in einem individuellen und sozialen Leben, das der Würde des Menschen vor Gott entspricht.“ (Haslinger et al. 1999b, S. 395) Sie hat dabei „eine vorrangige Option für benachteiligte, arme, unterdrückte, in die Bedeutungslosigkeit abgedrängte Menschen […] eine vorrangige Ausrichtung an den Menschen, bei denen dieses menschenwürdige Leben-Können am meisten verletzt ist.“ (ebd., S. 396) PT möchte durch ihre Arbeit dazu beitragen, die Zuwendung Gottes und „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) in konkreten Lebenskontexten erfahrbare Wirklichkeit werden zu lassen (vgl. ebd., S. 395). Dafür muss die PT von den Erfahrungen der Menschen und ihren wirklichen Fragen ausgehen (vgl. Haslinger et al. 1999a, S. 28) f.).21 Die Beachtung der Betroffenenperspektive ist eine konstitutive Komponente von PT (vgl. Fuchs u. Haslinger 1999, S. 220)22: „Deshalb ist es für eine diakonisch ausgerichtete Praktische Theologie wichtig, nicht nur die Notsituation, sondern auch die Art der Bedürftigkeit von den Betroffenen selbst definieren zu lassen.“ (ebd., S. 223)23

      Stephanie Klein erinnert daran, dass Menschen, die zu den „Armen“ gehören, oft wenig Möglichkeit haben, „sich in der Gesellschaft, der Kirche und der Theologie sichtbar zu machen. Empirische Forschung kann dazu beitragen, deren eigene Deutungen, Hoffnungen, Definitionen und Perspektiven zur Sprache zu bringen und ihnen in theologischen wie auch in anderen Diskursen Relevanz zu verleihen.“ (Klein 2005, S. 103) Heinz Schott und Rainer Tölle sind überzeugt, dass „viele chronisch Kranke nolens volens Erfahrungen in der Psychiatrie gewonnen“ haben: „Sie können mitreden“ – Psychiater könnten viel gewinnen, indem sie auf diese hörten (vgl. Schott u. Tölle 2006, S. 503). Solche Anliegen teilt auch unsere Studie, indem sie Patienten selber befragt und versucht, die Relevanz ihrer Aussagen für die fachliche Diskussion deutlich zu machen.

      PT möchte zu einer „angemesseneren, unverfälschteren Wahrnehmung“ der Lebenswirklichkeiten beitragen (vgl. Haslinger et al. 1999a, S. 27) und erkundet dazu empirisch gerade auch solche Bereiche, die in der humanwissenschaftlichen Forschung sonst zu kurz kommen, wie etwa „Fragen nach der gelebten Religiosität […]: nach den religiösen Vorstellungen und Gottesbildern von Menschen in verschiedenen biographischen und sozialen Lagen, nach ihren Hoffnungen, Suchbewegungen und Zweifeln, ihrer religiösen Sozialisation und Praxis usw.“ (Klein 2005, S. 102). Die in unserem empirischen Teil angewandten Methoden quantitativer Sozialforschung „sind geeignet, um die Verbreitung von Phänomenen zu erforschen“ (vgl. Klein 2015, S. 63) und betreiben in diesem Teil PT als Sozialwissenschaft (vgl. Mette u. Steinkamp 1983, S. 173). Nach Heinrich Pompey bedient sich Caritaswissenschaft „der Methoden der Sozialempirie. Sie fragt: 1. Was bedeutet der Glaube für leidende und suchende Menschen?“ (Pompey 2001, S. 189). Zu ihren Forschungsfragen gehöre: „Erweist sich der Glaube als Lebensquelle für notleidende, kranke, konfliktbeladene und suchende Menschen, und liefert er lebensförderliche Lebens-Wertoptionen bzw. Lebens-Sinnperspektiven?“ (ebd., S. 192) In unserem Fall ist das nicht etwa auf christlichen Glauben begrenzt, sondern fragt nach Werten, Sinn und möglichem Benefit in allen möglichen Weltanschauungen.

      Damit wird auf der Basis kompatibler bzw. konvergierender Optionen24 zwischen Humanwissenschaften und Theologie in „interdisziplinären Suchbewegungen […] vor allem problembezogenes und Problemlösungs-Wissen“ produziert (vgl. Mette u. Steinkamp 1983, S. 170) f.).25 Nach Stephanie Klein erarbeite PT „nicht primär Lösungen für die Praxis“, sondern stelle „Wissen und Analysen für die Erarbeitung von Lösungen zur Verfügung“ (vgl. Klein 1999a, S. 263). In diesem Sinne wollen unsere Ausführungen niemandem eine „Lösung“ vorschreiben, sondern zum informierten Nachdenken über die aufgezeigten Phänomene und Aspekte anregen und einige Vorschläge zu Lösungsansätzen machen.

      Was für Menschen wirklich hilfreich ist, lässt sich oft nicht leicht bestimmen. Jürgen Werbick sieht in seiner Theologischen Methodenlehre eine Aufgabe der „Diakonik“ (hier: Caritaswissenschaft) darin, in einen „produktiv ausgetragenen Konflikt der Hermeneutiken des Hilfreichen“ einzutreten und dafür empirisch zu erheben, „was der Lebens-Not von Menschen wirksam abhilft und von den Betroffenen wie den diakonisch Tätigen so empfunden wird, dass sie sich mit solcher Hilfe identifizieren können“ (Werbick 2015, S. 567). PT mische sich als „empirisch forschende Wissenschaft“ ein „in den interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs um die soziale Wirklichkeit“: „Sie macht die Theologie dort präsent und trägt aus theologischer Sicht zur Benennung der Probleme, zur Methodendiskussion, zur Theoriebildung, zur Findung von Lösungen und zum Streit um die Wirklichkeit bei.“ (Klein 2015, S. 64) Ihre Dokumentationen und Analysen seien „oft ein Politikum“, weil sie evtl. Missstände und Ungerechtigkeiten sichtbar machten (vgl. Klein 1999a, S. 264). Anwaltschaft für Benachteiligte gehört zu den Prinzipien von Caritas: Caritaswissenschaft müsse theologisch und sozialwissenschaftlich begründen, warum diese geboten und möglich ist (vgl. Haslinger 2004, S. 159). Anwaltschaft zielt nicht auf Gegnerschaft, sondern eher auf einen fruchtbaren Dialog und die Zusammenarbeit „mit allen Menschen guten Willens“ für das „Werk sozialer Nächstenliebe“ und Anliegen wie Gerechtigkeit und Frieden (vgl. Benedikt XVI. 2009, Nr. 57).26

      Zwischen Empirie und Theorie besteht auf mehreren Ebenen ein – im besten Falle konstruktives – Spannungsverhältnis. Zunächst sind empirische Daten nicht einfach „neutrale“ Fakten: Gegen ein positivistisches Verständnis sind sie „nicht die Wirklichkeit selbst“, sondern voraussetzungsreiche Ergebnisse, die „auf die Prämissen, die zugrundeliegende Anthropologie und die methodischen Implikationen hin reflektiert werden“ müssen (Klein 2015, S. 62) f.).27 Des weiteren besteht in unserem Kontext die Frage, ob und wie in ethischen, therapeutischen oder theologischen Fragen Empirie auf die Theorie bzw. das übliche Denken einwirken kann. Die Medizinethiker Stella Reiter-Theil und Uwe Fahr betrachten (empirische) „Forschung über Ethik“, die Betroffene und ihre Anliegen mehr als nur anekdotisch einbezieht, als eine „notwendige Aufklärung und Selbstkritik.“ (vgl. Reiter-Theil u. Fahr 2005, S. 103) Reiter-Theil beschreibt in einem grundlegenden Artikel drei Muster der Beziehung zwischen dem Empirischen (bzw. empirisch beobachtbarer Praxis) und ethischen Normen: Diese könnten sich jeweils in eine Richtung oder auch gegenseitig infrage stellen (vgl. Reiter-Theil 2012, S. 426). So könnten z. B. empirische Studien, die eine überraschende oder bedenkliche Praxis nachweisen, Anlass sein für die kritische Bewertung einer bestimmten Norm, die dabei verteidigt, modifiziert oder zur weiteren Diskussion gestellt werden könnte. Für eine Modifikation brauche es aber robuste empirische Evidenz und möglichst interdisziplinäre ethische Argumentation (vgl. ebd., S. 432 f.). In diesem Sinne könnten empirische Ergebnisse unserer Studie zusammen mit den anthropologischen und ethischen Perspektiven durchaus ein Anstoß sein zur Weiterentwicklung sowohl von medizinethischen Richtlinien (die etwa im deutschsprachigen Raum im Blick auf Religion und Weltanschauung nur die Neutralität formulieren; vgl. Abschn. 3.3.1) wie auch von Standards der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung (die etwa in den einschlägigen Lehrbüchern Religiosität bzw. Spiritualität weitestgehend ausklammern; vgl. Abschn. 6.2.1). PT erweist sich damit „in ihrer für die Praxis generativen Kraft als gegenwarts- und zukunftsträchtig“ (vgl. Kießling 2005, S. 123). Theologie hat eine prophetische Aufgabe, es gibt in ihr „einen auf Zukunft hin orientierten Praxisbezug, der die gegenwärtig vorfindbare Praxis als Korrektur und Herausforderung trifft“ und im empirisch Erkennbaren nach Potentialen sucht, die – wie in Jesu Gleichnissen – für überraschende theologische Perspektiven offen sein können

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