Dein Reich komme. Jürgen Kroth

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Dein Reich komme - Jürgen Kroth Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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nur das an, was ist, sondern sie zeigen auch – vielleicht auch nur ex negativo –, was werden soll. Dies entspricht exakt dem, was in der Formulierung von Gaudium et spes gefordert war, nämlich die Zeichen der Zeit im Lichte des Evangeliums zu deuten, da auch das Evangelium in der eigenartigen Spannung von Anamnese und Prolepse sich situiert, oder stärker biblisch formuliert, zwischen Exodus und Apokalyptik.

      Mit der Erkundung der Zeichen der Zeit wagt sich das Konzil gänzlich in einen Bereich, der ihm – und auch weitgehend der Theologie – fremd und bedrohlich erschien: in den Bereich der Geschichte. Theologie, die gewohnt war und ist, sich mit ewigen Wahrheiten auseinanderzusetzen, ist auf das Leben hin zurückgeworfen, auf die Kontingenz des Lebens, auf die Diskontinuität der Geschichte, auf das Nichtidentische, das eben nicht im Begriff sich aufheben lässt. Sie ist darauf verpflichtet, die Realität möglichst umfassend zu erfassen, ihre Methodologie hin zum induktiven Denken zu verändern, sich dem Schema „sehen – urteilen – handeln“ zu verpflichten.

      Wir werden in den folgenden Schritten dies versuchen, in dem Bewusstsein allerdings, dass es sich bei den hier zum Gegenstand gemachten Zeichen der Zeit nur um Ausschnitte aus diesen Zeichen handelt, keineswegs um eine umfassende Analytik.

      1

      Weit über alle Grenzen – auch ideologischer Art – zeigt sich eine Signatur der Spät- oder Nachmoderne: Menschen werden immer weniger als Personen, denn als Individuen betrachtet. Worin aber, so ließe sich fragen, liegt dabei das Problem? Nun, „eine Person ist ein Mensch, der mitten unter anderen Menschen und durch sie seine unverwechselbare Eigenheit hören läßt (per-sonat). Ein Individuum ist ein Mensch, sofern er sich von anderen Menschen unterscheidet, gemäß der alten scholastischen Definition: indivisum in se, divisum ab omne alio, ungetrennt in sich, getrennt von jedem anderen. Deswegen setzen Person und Gesellschaft einander voraus, Individuum schließt Gesellschaft aus.“7 Gesellschaft ist dann nicht die Einheit von Personen, die in unterschiedlichen Interaktionen sich befinden, sondern die Summe der Individuen. Ein gemeinsames Handeln oder gar gemeinsame Interessen sind auf der Basis des Individualisierungsdrangs nicht vorauszusetzen. Norbert Elias hat diese Entwicklung als das „Wir-lose Ich“8 bezeichnet. Ausgehend von der Prämisse, dass IchIdentität einen konstitutiven Wir-Bezug voraussetzt, dass also IchWerdung immer Ich-Werdung am anderen und von anderen ist, weist Elias nach, dass es eine deutliche Verschiebung von der Wir-Identität hin zur monadischen Ich-Identität gibt. Von den Stammesgesellschaften bis ins europäische Mittelalter lässt sich dies darlegen. Erstmals in der Renaissance ist solch eine Verlagerung zu beobachten. Ökonomisch findet eine Ablösung der Familienbindung statt; die Sippe wird immer weniger zum Hintergrund des materiellen Überlebens. Immer stärker wird jeder zum ‚Schmied seines eigenen Glücks’. Es kommt folglich auf jeden einzelnen an, der stets in Absetzung und Konkurrenz zum anderen sein Glück findet.

      Gerade von den Protagonisten des Liberalismus, genauer gesagt: des neoklassischen Liberalismus wird diese Entwicklung gewiss goutiert. Allerdings gibt es auch gewichtige Kritiker. Der konservative Kulturkritiker Daniel Bell sieht den Individualismus eher als Ausdruck eines egoistischen Hedonismus. Individualismus ist für ihn „Synonym für Egoismus als Ausdruck mangelnder Pflichterfüllung und Moral“9. Unverkennbar trifft sich diese Kritik mit vielen Kritiken aus theologisch-kirchlichen Kreisen. Der Individualist ist in dieser Beschreibung weniger Opfer denn Täter. Er ist der konsumorientierte Freizeitmensch oder, in der Beschreibung von Gerhard Schulze, tendenziell im Unterhaltungsmilieu angesiedelt.10 Doch kann man den individualisierten Menschen im tiefsten Sinne vorwerfen, dass sie ihre hedonistischen Anteile ausleben? Sind sie sich immer bewusst, wie sie ihr Leben gestalten? Kennen sie ihre Handlungsmotive hinreichend und entscheiden sich dann reflektiert dafür?

      Eher scheint die Diagnose Erich Fromms zutreffend, der im individualisierten Menschen ein Opfer gesellschaftlicher Entwicklungen (Massenkonsum, Warenästhetik u.ä.) entdeckt. In seiner Typologie der Sozialcharaktere ordnet Fromm den bürgerlichen Sozialcharakter11 in der Früh- und Hochphase des Kapitalismus dem (analen) Typus des Besitz hortenden Menschen zu, der zugleich autoritäre Züge im Sinne eines rigiden, kontrollierenden Über-Ichs trägt. In der Überflussgesellschaft des Spätkapitalismus wandelt sich die autoritär geprägte Persönlichkeitsstruktur nur scheinbar, denn an die Stelle der Abhängigkeit von den patriarchalen Vätergestalten (Vorgesetzte, Chefs, Pfarrer u.ä.) treten mit zunehmender Bürokratisierung die sog. Sachzwänge, die ihrerseits Abhängigkeitswünsche und Ohnmachtsgefühle nähren.

      In dieser Sicht werden Individualisierung und die damit verbundenen Wahrnehmungen der Menschen in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Entwicklungen gesehen. Individualisierung zeigt dabei nicht nur eine Fortschritt begründende Dimension, wenn wir z.B. an die Autonomiefrage denken, sondern entfaltet sich auch als Zerstörung der Subjekte durch eine atomisierende Isolation des Individuums von anderen Individuen. Dieses Phänomen wird in der Sozialpsychologie auch als narzisstischer Sozialcharakter beschrieben und hat für die heutige pastorale Situation durchaus große Bedeutung, insofern hier wiederum Individualisierung in Absehung von einer tieferen Beziehung zum anderen formuliert wird. In einem größeren historischen Kontext wird dies von Kuzmics folgendermaßen beschrieben:

      „Am Anfang des Bürgertums stand das ‚heroische Subjekt’, am (vorläufigen) Ende ist es weitgehend verschwunden und macht einem ziemlich jämmerlichen Vertreter der bürgerlichen Spezies Platz. Der Narzißt betritt die Bühne, ängstlich, aber ohne tiefere Schamgefühle, von Phantasien der Grandiosität getragen, aber innerlich leer; abhängig von anderen, unfähig, seine Bedürfnisse aufzuschieben, ist er auch nicht imstande, zu anderen tiefere Beziehungen einzugehen.“12

      Selbstverständlich kann den hier dargestellten Subjekten ihr Narzissmus nicht vorgeworfen worden, da es sich dabei um eine Pathologie der modernen Gesellschaft und ihrer Individualisierungstendenz handelt. Insofern aber die kirchliche Praxis es freilich mit genau jenen Subjekten auch zu tun hat, muss sie sich mit diesen Phänomenen auseinandersetzen, will sie wissen, wie denn die Menschen geprägt sind.

      2

      Hinter dem etwas undurchsichtigen Begriff der Kolonialisierung der Lebenswelt verbirgt sich ein komplexes Theoriegefüge, das wesentlich von Jürgen Habermas in vielen unterschiedlichen Arbeiten entfaltet wurde. Leider kann ich hier nur gleichsam summarisch und daher auch sehr verkürzt einige Grundzüge dieser komplexen Theorie darlegen und sie anhand weniger Beobachtungen prüfen. Grundlegend ist eine zentrale Unterscheidung: die nämlich von System und Lebenswelt. Unter System versteht Habermas dabei den gesamten Bereich der Ökonomie, der Politik und der gesellschaftlichen Makrostruktur. Lebenswelt hingegen ist der Sektor der menschlichen Interaktion, seiner unmittelbaren Lebensvollzüge, der Interpretation eigener Verhältnisse und Situierung innerhalb der systemischen Überlagerung. Dabei möchte Habermas mit dieser Unterscheidung nicht die Unterwerfung unter das System, sondern im Rahmen der systemischen Überlagerung lebensweltliche Residuen schaffen. Im Gegensatz zu Adornos Diktum, es gebe „kein richtiges Leben im falschen“13, scheint Habermas davon auszugehen, dass es im bestehenden Falschen doch auch richtiges Leben gebe, wenn dies auch möglicherweise, so wäre hinzufügen, gerade dadurch auch beschädigt wird.14 Was Jürgen Habermas damit meint, ist wiederum gar nicht so schwer und soll an Alltagsbeispielen erläutert werden:

      Angesicht der erfahrenen oder zumindest so wahrgenommenen Übermacht des ökonomischen oder auch administrativen Systems fühlen sich immer mehr Menschen diesem System bloß noch ausgeliefert, sie fühlen sich ohnmächtig und klein, die Komplexität des Systems scheint immer unübersichtlicher wenn nicht gar undurchschaubar. Viele Menschen reagieren darauf mit Apathie, manchmal aber auch mit diffuser Wut auf irgendetwas, jedenfalls nicht mit einem bestimmter Zorn auf etwas Konkretes.

      Wenn wir unsere Briefkästen leeren, finden wir zumeist – sofern wir nicht entsprechende Bitten darauf geklebt

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