Dein Reich komme. Jürgen Kroth
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Zunächst aber soll der Befund der Enttraditionalisierung eingebunden werden in den postmodernistischen Individualisierungstrend.
„Die Individuen müssen“, so meint Ulrich Beck, „um nicht zu scheitern, langfristig planen und den Umständen sich anpassen können, müssen organisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen, Niederlagen einstecken und neue Anfänge versuchen. Sie brauchen Initiative, Zähigkeit, Flexibilität und Frustrationstoleranz. Chancen, Gefahren, Unsicherheiten der Biographie, die früher im Familienverbund, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückgriff auf ständische Regeln oder soziale Klassen definiert waren, müssen nun von den einzelnen selbst wahrgenommen, interpretiert, entschieden und bearbeitet werden. Die Folgen – Chancen wie Lasten – verlagern sich auf die Individuen, wobei diese freilich angesichts der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge, vielfach kaum in der Lage sind, die notwendig werdenden Entscheidungen fundiert zu treffen, in Abwägung von Interesse, Moral und Folgen.“35
Unter postmodernen Bedingungen hat also nunmehr die Biographie zu ersetzen, was einst die kollektiven Bindungen gewährleisteten. Diese aber waren noch einmal fundiert in mehr oder weniger stabilen Traditionen, die freilich nicht per se gut, hilfreich und unproblematisch waren, erst recht, wenn Tradition gleichsam traditionalistisch verstanden wird. Was aber neu ist an unserer Situation, das ist, dass die kulturellen Traditionen, die es zwar noch immer gibt, ihre unhinterfragten normativen Gehalte verlieren. Viele andere Wert- und Sinnsysteme erhalten nun die gleiche Dignität und das Individuum steht vor der schwierigen Aufgabe, aus der Vielfalt der Möglichkeiten entweder eine sich auszusuchen oder aber selbst einen neuen Mix herzustellen in Gestalt individueller Synkretismen, die gleichwohl ohne besondere Stringenz, vielmehr durch Lust gekennzeichnet sind.
Dass von dieser Entwicklung, also der Erosion der normativ-kulturellen Überlieferung, die traditionellen Religionen und Konfessionen in besonderer Weise getroffen sind, versteht sich von selbst. In weiten Teilen gelten sie schließlich als Wahrer der Tradition schlechthin. Dabei stimmt es natürlich, dass gerade die jungen Menschen dies nicht mehr so sehen und in der Tradition eher einen schlichten Traditionalismus vermuten, den sie freilich nicht so nennen würden und könnten. Auch greift es zu kurz, dies einfachhin der Säkularisierung anzulasten, in der die Religion sich nach und nach ihrer Plausibilitäten entledigt und damit überflüssig wird. Das Individualisierungstheorem hat hier zu einer differenzierteren Betrachtungsweise geführt, indem natürlich gesehen wird, dass die institutionalisierte Religion – also in unserem Kontext das Christentum – eine gravierende Depotenzierung erfahren hat, dass aber andererseits damit nicht ein Verlust von Religion an sich zu verzeichnen ist, dass vielmehr auch hier eine individualisierte Religion entstanden ist. Schon Ende der 60er Jahre hat der amerikanische Religionssoziologe Thomas Luckmann hier eine „unsichtbare Religion“36 zu entdecken geglaubt. In einer empirischen Studie aus der Schweiz Anfang der 90er Jahre lassen sich diese Tendenzen nunmehr verifizieren. Alfred Dubach und Roland Campiche haben vier typische Ausprägungen zeitgenössischer Religiosität herausgestellt:
1. Individuell-autonome Religiosität: Der Ort von Religion „verschiebt sich aus dem Bereich der kirchlich institutionalisierten Religion in denjenigen des Individuums“. Das Individuum ist die Instanz, die seine Religiosität selbst zu wählen und zu verantworten hat. Eine „quasi-automatische Übernahme vorgeformter, kirchlich bereitstehender Lebensdeutungen und Frömmigkeitsformen“ geschieht in der Regel nicht mehr. Die erfolgte Pluralisierung auch im religiösen Bereich kommt dem Anspruch der Autonomie entgegen.
2. Bedarf nach religiöser Selbstthematisierung: „Mit der Autonomie und der Option für Pluralität ist implizit ein weiteres Element moderner Religiosität gegeben: Religion ist unter den Bedingungen der Moderne zunehmend nur mehr im Medium von Subjektivität oder gar nur als Subjektivität darstellbar.“ Das, wie bereits herausgestellt, starke Zurückgeworfensein der einzelnen auf ihr eigenes Selbst bedingt, dass die Frage nach der persönlichen Identität zunehmend zum zentralen Thema wird und dabei stark religiöse Züge annimmt.
3. Selbstbestimmt-pragmatisches Verhältnis zu den Kirchen: Die kirchliche Mitgliedschaft wird immer noch relativ selten ausdrücklich aufgekündigt (auch wenn die Zahl derer, die es tut, sich beträchtlich erhöht hat); sie wird als ein Element der persönlichen Lebensgeschichte gelten gelassen, das von Fall zu Fall auch aktiviert wird. Diese „Fälle“ werden allerdings von den Betroffenen bestimmt und nicht durch institutionelle Vorgaben gesteuert. Diese werden – wenn überhaupt – als fakultatives Angebot wahrgenommen.
4. Vielfalt religiöser Orientierungen und Attraktivität neureligiöser, esoterischer Ausformungen: Die Schweizerische Bevölkerung bezeichnet sich mehrheitlich als christlich. Faktisch geht damit eine Vielfalt religiöser Ausdrucksformen einher, nicht nur außerhalb der Kirchen, sondern auch innerhalb. Hierbei spielen die herkömmlichen konfessionellen Grenzziehungen so gut wie keine Rolle mehr. Das Spektrum reicht von religiöser Indifferenz über eine weit verbreitete und synkretistisch durchsetzte „diffuse Religiosität“ bis hin zu auf bewußter Entscheidung beruhenden Minderheitsreligiositäten sowohl fundamentalistischer als auch „aufgeklärter“ Spielart. Neureligiöse Orientierungen und Praktiken sind für manche Zeitgenossen deswegen attraktiv, weil sie – anders als in den traditionellen Kirchen – dort ihre Lebenssehnsüchte, Ängste und Nöte aufgenommen sehen.37
Was für die Schweiz galt, ist sicherlich auf bundesdeutsche Verhältnisse übertragbar. Die Erkenntnisse dürften uns – nach allem was wir bisher reflektierten – kaum besonders irritieren. Dennoch stellen sie uns vor enorme Herausforderungen; zumindest wenn wir noch einmal das Projekt der Individualisierung im Rahmen von Moderne und Postmoderne in den Blick nehmen:
Es ist nachvollziehbar, wenn man in dem Individualisierungsschub der Postmoderne eine gewisse Radikalisierung des Freiheitpathos’ der Moderne sieht. Die Bedingung für die Individualisierung war die weitgehende Dezentrierung der traditionsorientierten Milieus und die ungeheure Ausweitung der individuellen Handlungsspielräume. Insofern kann man tatsächlich einen enormen Freiheitszuwachs verzeichnen. Allerdings ist mit Habermas und Peukert zu fragen: Welcher Freiheit? Denn selbstverständlich sind verschiedene Freiheitskonzeptionen denkbar. Das Projekt der Moderne kennt zwei grundverschiedene Freiheitskonzeptionen: Zum einen gibt es jene der totalen Selbstbestimmung, der radikalen Autonomie des von allen äußeren Zwängen losgelösten Subjektes; zum anderen aber wird mit großem Recht betont, Freiheit sei nur zureichend erfasst und praktiziert, wenn die je eigene Freiheit ihren Maßstab und ihre tiefste Begründung in der freien Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit finde und dass daher Freiheit nur als Akt der Intersubjektivität begriffen und praktiziert werden könne.
Der ersten Variante folgt eine Logik der Selbstbehauptung und Machtsteigerung, die man auch als instrumentell kennzeichnen könnte, der zweiten folgt eine Logik kommunikativer Praxis der wechselseitigen Anerkennung. Diese Unterscheidung ist insofern folgenreich, da für die pädagogische Praxis mit dem Ziel eines angemessenen Verständnisses sozialisatorisch-pädagogischer Interaktion nur das zweite Modell infrage kommt, als ein intersubjektives Handeln nämlich, „das dem anderen Freiheit als seine ursprüngliche Möglichkeit nie abspricht, sondern schon immer vorgreifend voraussetzt und darin seine unantastbare Würde sieht“38. Nun ist allerdings davon auszugehen, dass der gesellschaftlich relevante Freiheitsbegriff und das praktizierte Freiheitskonzept gerade ein solches Verständnis permanent unterläuft und dadurch fundamental erschwert.
Spätestens hier – so kann man mit Axel Honneth folgern – wirkt sich der Verlust von Traditionen verhängnisvoll aus, denn es „droht mit der Erosion der kulturell-normativen Überlieferungen, wie sie die geschichtsphilosophischen Konstruktionen etwa der sozialistischen oder religiösen Traditionen bereitstellten, […] die Gefahr einer Austrocknung des kulturell-normativen Interaktionsmediums der Lebenswelt“39, denn solch narrativ verfasste Überlieferungen waren es, „in denen sich die Mitglieder eines Gemeinwesens in ihrer Gegenwart noch kommunikativ auf eine gemeinsame Vergangenheit und eine entsprechend konstruierte Zukunft hin verständigen konnten“40.