Dein Reich komme. Jürgen Kroth

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Dein Reich komme - Jürgen Kroth Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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noch einmal von einer anderen Seite vertiefen, denn der Verlust von Tradition hat seine Grundlage nicht nur in den Individualisierungs- und Freiheitstendenzen, sondern auch im Verlust von Erinnerung, die uns Christinnen und Christen besonders stark betrifft: immerhin ist unsere Glaubensgemeinschaft wesentlich auch Erinnerungsgemeinschaft, die sich jeden Sonntag um einen Tisch versammelt und dies „in seinem Gedächtnis“ tut. Sie erinnert dabei sowohl Freiheits- wie auch Leidensgeschichte und eröffnet gerade erinnernd eine Zukunft für alle Menschen – nicht nur für die versammelte Gemeinde. Wenn nun Erinnerung und damit Tradition immer mehr verloren zu gehen droht, bedroht das das Christentum im Ganzen – wenn auch auf eine zunächst subtile Art und Weise. Es ist eine schleichende Bedrohung, wie auch der Erinnerungsverlust ja kein spektakulärer, sondern ein schleichender Prozess ist. Schon Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts41 hat das Magazin „Time“, das jedes Jahr den Menschen des Jahres kürt, eine bahnbrechende Neuorientierung vorgenommen, indem es auf der Titelseite den Menschen des Jahres vorstellte, der aber gar kein Mensch war, sondern ein Roboter; der aber gespickt mit Elektronik das grundlegende Defizit des Menschen nicht mehr besitzt, der nämlich nichts erinnern kann, weil er gar nichts vergessen kann. Es ist eine Intelligenz ohne Geschichte, ohne Leidensfähigkeit – und ohne Moral.

      Gegen diese kulturelle Amnesie setzt die jüdisch-christliche Tradition das Erinnern. Dabei ist natürlich wenigstens ganz grob eine Unterscheidung angezeigt. Es gibt wenigstens drei große Erinnerungskonzeptionen: die platonische Anamnesislehre, die eschatologische memoria des Christentums und die Synthese beider in der Hegelschen Philosophie.

      Anamnesis ist im Grunde der Schlüsselbegriff der platonischen Philosophie: Sie wird für Platon dadurch fundamental, dass er sie als ermöglichenden Grund formeller „vernünftiger“ Erkenntnis überhaupt versteht, sie also als Konstitutionsproblem der Vernunft thematisiert. Erkenntnis ist eine Erkenntnis vorgewusster und insofern erinnerungsgeleiteter Wahrheit. Diese Position zieht sich durch die gesamte Philosophiegeschichte: über Anselm von Canterbury bis zu Descartes und der bei ihnen formulierten eingeborenen Idee Gottes, bis hin zu Heideggers Erinnerung als Eintauchen in die vorgängige Wahrheit. Mit Kant gab es die erste grundlegende Irritation dieses Konzepts, indem er darauf hinwies, dass die Vernunft nie etwas anderes erkennen könne, als das der Vernunft Zugängliche, dass mithin ein Block zwischen der Möglichkeit immanenter und transzendenter Erkenntnis liege, was indes nicht bedeutet, dass damit Transzendenz geleugnet wäre.

      Als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft verortet sich das Christentum nun in einer Welt des griechischen Logos und der Metaphysik. Anders als diese beansprucht das Christentum nicht einen abstrakten Erinnerungsbegriff, vielmehr weiß es seine Erinnerungen auf geschichtliche Ereignisse, ja letztlich auf ein geschichtliches Ereignis hin bezogen: nämlich die eschatologische Erlösung und Befreiung des Menschen durch Gott, die es als unwiderruflich angebrochen glaubt. Erinnerung nimmt hier einen neuen Status an, nämlich als eine Erinnerung nach vorn, nachdem in der Geistesgeschichte Erinnerung immer nur eine nach hinten war.

      In der Hegelschen Philosophie kommt nun die Synthese insofern zustande, als nunmehr die Philosophie gezwungen ist, Wahrheit auf dem geschichtlichen Stand ihrer Vermittlung zu denken, ihre Allgemeinheit gewissermaßen aus geschichtlicher Apriorität zu begreifen. So wird sie auch zur kritischen Erinnerung, zumindest als „Empfindlichkeit gegen jede Form von Unterbietung des erreichten Stands“42 und in eins damit als Protest gegen jede begriffslose Unterwerfung unter vorgegebene Zustände. Dass natürlich hier weitergehende Differenzierungen nötig wären, versteht sich von selbst. Ich möchte aber nur eine Weiterführung der Hegelschen Position, die dann auch theologisch wichtig wurde, noch kurz ansprechen: nämlich die „gefährliche Erinnerung“ in der sog. Frankfurter Schule. Zwei Namen sind hier zunächst wichtig: Walter Benjamin und Herbert Marcuse.

      In den geschichtsphilosophischen Thesen43 entfaltet Benjamin die Erinnerung der Leidensgeschichte der Welt als Vermittlung einer Verwirklichung von Vernunft und Freiheit, die sich gegen ein undialektisches Verständnis von Fortschritt wendet. Gerade im Angesichte ungeheueren Fortschritts verschafft der Blick in die Vergangenheit wichtige und kritische Erkenntnisse. Eher psychologisch ansetzend kommt Herbert Marcuse zu ähnlichen Ergebnissen, wenn er betont, die „wiederentdeckte Vergangenheit“ liefere „kritische Maßstäbe“ und werde zum „Vehikel der Befreiung“44. Gesellschaftskritisch gewendet heißt dies dann bei Marcuse:

      „Die Erinnerung an die Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint die subversiven Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten. Das Erinnern ist eine Weise, sich von den gegebenen Tatsachen abzulösen, eine Weise der ‚Vermittlung’, die für kurze Augenblicke die allgegenwärtige Macht der gegebenen Tatsachen durchbricht. Das Gedächtnis ruft vergangene Schrecken wie vergangene Hoffnung in die Erinnerung zurück. Beide werden wieder lebendig, aber während jener in der Wirklichkeit in stets neuen Formen wiederkehrt, bleibt diese in Hoffnung. Und in den persönlichen Begebenheiten, die im individuellen Gedächtnis neu erstehen, setzen sich die Ängste und Sehnsüchte der Menschheit durch – das Allgemeine im Besonderen. Die Geschichte ist es, die die Erinnerung bewahrt, aber auch sie unterliegt der totalitären Gewalt des verhaltensmäßigen Universums.“45

      Adorno, der dritte wichtige Name in diesem Zusammenhang, betont in erkenntniskritischer Absicht:

      „Was im Denken geschichtlich ist, anstatt der Zeitlosigkeit der objektivierten Logik zu parieren, wird dem Aberglauben gleichgesetzt, der in der Berufung auf kirchlich institutionelle Tradition wider den prüfenden Gedanken tatsächlich war. Die Kritik an Autorität hatte allen Grund. Aber sie verkennt, daß Tradition der Erkenntnis selbst immanent ist als das vermittelnde Moment ihrer Gegenstände. Erkenntnis verformt diese, sobald sie kraft stillstellender Objektivierung damit tabula rasa macht. Sie hat an sich noch in ihrer dem Gehalt gegenüber verselbständigten Form, teil an Tradition als unbewußte Erinnerung; keine Frage könnte nur gefragt werden, in der Wissen vom Vergangenen nicht aufbewahrt wäre und weiterdrängte.“46

      Adorno aber weiß schon von der Fragilität der Tradition und der damit einhergehenden Erinnerungsschwäche. Er selbst gibt die Aporie von Tradition an:

      „Wie die in sich verbissene Tradition ist das absolut Traditionslose naiv: ohne Ahnung von dem, was an Vergangenem in der vermeintlich reinen, vom Staub des Zerfallenen ungetrübten Beziehung zu den Sachen steckt. Inhuman aber ist das Vergessen, weil das akkumulierte Leiden vergessen wird; denn die geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen ist immer die vergangenen Leidens. Darum stellt Tradition heute vor einen unauflöslichen Widerspruch. Keine ist gegenwärtig und zu beschwören; ist aber eine jegliche ausgelöscht, so beginnt der Einmarsch in die Unmenschlichkeit.“47

      Schon in der berühmten Rede des Dominikaners Melchior Cano über die loci theologici, mit der im katholischen Raum des 16. Jahrhunderts die Grundlage für die Fundamentaltheologie als universitäre Disziplin gelegt wurde, wird zwar von Orten gehandelt, die aber gleichsam ortlos bleiben, insofern sie bloß formalen Gesichtspunkten folgten und unter Absehung jeglichen Subjektbezugs formuliert waren.48 Er führt zehn spezifische Orte auf, nämlich: die Heilige Schrift, die Tradition, die katholische Kirche, die Konzilien, die römische Kirche, die Kirchenväter, die scholastischen Theologen, die menschliche Vernunft, die Philosophie und die menschliche Geschichte. Es geht also gerade nicht um den spezifischen Ort der Theologie, sondern um erkenntnistheoretische Fragen hinsichtlich der Quellen der Theologie.49

      Früh also ist die Ortlosigkeit schon in die Theologie hineingekommen, obwohl doch Theologie von Anbeginn nie ortlos gedacht werden darf. Waren nicht biblische Reflexionen immer an bestimmte Subjekte, mit bestimmten Fragestellungen an bestimmten Orten orientiert? War nicht die älteste Jesustradition immer mit spezifischen Ortsbezügen verbunden? Lag es nicht wesentlich im paulinischen Interesse, Orte zu gestalten und damit Nachfolgepraxis zu sichern? War nicht in all diesen Traditionen immer auch eine Orientierung

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