Dein Reich komme. Jürgen Kroth

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Dein Reich komme - Jürgen Kroth Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

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Produkte zu animieren – meist mit dem Hinweis auf einen großartigen Rabatt. Wegwerfartikel haben – allen kritischen Hinweisen auf drohende ökologische Katastrophen zum Trotz – weiterhin Konjunktur usf.

      Dies alles sind Invasionen unseres Alltags, derer wir uns fast nur noch durch ausdrückliche Aufklärung bewusst werden. Die Normalität dieser Invasion macht eine kritische Wahrnehmung aber immer schwerer. Auch angesichts der täglichen Katastrophen gibt es einen Gewöhnungseffekt. Man kann sich trefflich wundern, „wie wenig man ihrer [der Philosophie; J.K.] Geschichte die Leiden der Menschheit anmerkt“15. Wie schnell vergaßen wir Tschernobyl? Wie lange ist die Halbwertzeit einer Angst vor Krieg, z.B. beim ersten Irak-Krieg? Wer spricht heute noch von den Opfern der Tsunami-Welle? Wer erinnert noch ernsthaft die Opfer des 11. September? Wer vor allem thematisiert den systemischen Massenmord an den Kindern, die heute an Unterernährung sterben? Auch das Vergessen und das Verdrängen scheint System zu haben. Das System-Lebenswelt-Theorem versucht, diese Erfahrungen soziologisch und sozialpsychologisch zu erklären, indem es die Auswirkungen „systemischer“ Komplexitätssteigerung auf die Lebenswelt beschreibt.

      Folgt man Jürgen Habermas, haben sich die staatliche Bürokratie und der kapitalistische Markt zu einem „monetär-administrativen Komplex verdichtet, haben sich gegenüber der kommunikativ strukturierten Lebenswelt verselbständigt und sind offenbar überkomplex geworden“16. Gerade wenn das System aber übermächtig und überkomplex zu werden droht und – jedenfalls in der Diagnose von Habermas – dagegen kaum Alternativen zu entwickeln sind, wäre eine Reaktionsmöglichkeit, die von der Kolonialisierung bedrohte Lebenswelt um so mehr zu schützen.

      Mit „Lebenswelt“ ist in diesem theoretischen Zusammenhang – natürlich hier verkürzt – gemeint einerseits die alltagsweltlichen Plausibilitäten, an denen wir unser Handeln orientieren, andererseits der Rückhalt durch bestimmte Kollektive oder Milieus u.ä., die Orte darstellen, an denen Menschen sich die Kategorien ihres Weltverständnisses aneignen.

      Beide Bereiche sind von der Kolonialisierung durch das System bedroht: Wirtschaft und Bürokratie dehnen – teils gezielt, teils inneren Gesetzmäßigkeiten folgend – ihre Einflussbereiche immer mehr hin zur Lebenswelt aus. Dieser Prozess ist aber nicht einfach wertneutral, sondern führt in Bedrohungslagen, wenn gesellschaftliche Prozesse, wie Habermas dies nun nennt, vom „verständigungsorientierten Handeln“17 abgekoppelt werden.

      So wichtig die Analysen und Diagnosen von Jürgen Habermas für das Verständnis heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse auch sind; sie dürfen freilich auch nicht einfach unhinterfragt bleiben. Norbert Mette fasst seine Kritik in großer Nähe zu diesem Konzept folgendermaßen zusammen:

      „Ein häufig gesuchter Ausweg aus diesen verschärften Krisenerfahrungen besteht in dem Versuch, sich in überschaubare Lebenswelten hinein zurückzuziehen. Daß damit vielfach – nämlich im Fall eines unkritischen Sich-zurück-Ziehens – eine Realitätsverweigerung eingehandelt wird, macht die eine problematische Seite dieses Auswegs aus. Gravierender ist die andere Seite, nämlich daß sich die Ansicht, auf solchen gesellschaftlichen Inseln könne man sich des destruktiven systemischen Gesamtzusammenhangs entziehen, als Illusion erweist. Im Gegenteil, die aufgeführten Formen der ökonomischen und administrativen Rationalität mit ihren abstrakten Steuerungsmechanismen nehmen immer stärker Einfluß auf die lebensweltlich strukturierten Gesellschaftsbereiche und deformieren sie, weil ihnen damit ihre für sie charakteristische kommunikative Struktur, die Möglichkeiten eines verständigungsorientierten Handelns eröffnet und gewährleistet, auf Dauer entzogen wird.“18

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      Folgt man Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ hinsichtlich des grundlegenden Merkmals der modernen Gesellschaft, dann kann ein Prinzip nicht übersehen werden, nämlich das Prinzip der „persönlichen Selbstzwecklichkeit des einzelnen in seinen Bedürfnissen“19. Hier wird das Bedürfnis noch an die Selbstzwecklichkeit des Menschen zurückgebunden. Eine Rückbindung, die freilich nicht lange Bestand hatte. Denn schon in den Analysen von Karl Marx zeigt sich, dass eine ökonomisch strukturierte Eigengesetzlichkeit im Gange war, die die Bedürfnishaftigkeit gleichsam instrumentalisierte und damit freilich auch den Menschen instrumentalisierte als Adressaten einer Bedürfnisproduktion. Die Moderne bildet daher idealtypisch ein „System von Bedürfnissen, in dem tendenziell jeder sich selbst bestimmen und verwirklichen können soll, in dem aber faktisch doch jeder gegen jeden sich behaupten muß“20. Ein jeder hat die Möglichkeiten, seine Bedürfnisse frei zu artikulieren und für deren Befriedigung zu sorgen. Der Ort, an dem das stattfindet, ist der Markt.

      Nun sind aber schon von sich aus menschliche Bedürfnisse offensichtlich expansiv und neigen nur selten dazu, sich mit Bestehendem oder Vorhandenem zufrieden zu geben. Selbstverständlich gibt es hier Ausnahmen, aber sie bestätigen doch wohl immer wieder nur die Regel. Wenn dies aber stimmt und wenn weiterhin richtig ist, dass nicht jedes Bedürfnis gleichermaßen befriedigt werden kann, wenn daher unterschiedliche, in freier Subjektivität artikulierte Bedürfnisse anderen frei artikulierten Bedürfnissen gegenübertreten, dann ergibt sich daraus zum einen ein der Bedürfniswelt immanentes Aggressions- und Konfliktpotential, dann stellt sich aber auch eine gesellschaftliche Tendenz ein, die progressiven Bedürfnisse in möglichst großer Anzahl zu befriedigen; kurz gesprochen: ein expandierender Markt sucht danach, dies zu regulieren, was freilich auf Erschließung immer neuer Ressourcen hinausläuft.

      Wird dabei aber eine bestimmte Schwelle überschritten, indem die Kontrolle der Bedürfnisbefriedigung an die Bedürfnisartikulation gebunden bliebe, beginnt sich der Prozess zu verselbständigen. Das bedeutet, dass ab dann ständig neu die Bedürfnisse selbst produziert werden müssen und das Bedürfnissubjekt seinerseits mehr und mehr durch die Bedürfnisproduktion zu einem Bedürfnisobjekt wird. Diese Entwicklung ist unschwer von den meisten Menschen nachzuvollziehen. Dass diese Logik der Expansion nicht beliebig fortsetzbar ist, ist ebenso evident wie offensichtlich folgenlos, obwohl doch die Folgen inzwischen nicht nur in den Ländern der sog. Dritten Welt sichtbar sind, sondern zunehmend auch hier bei uns.21 Jenseits aber der ökonomischen und ökologischen Auswirkungen zeigen sich in den westeuropäischen Ländern auch noch andere Folgen, die für eine pastoraltheologische und religionspädagogische Theorie und Praxis ebenfalls bedeutsam sind: nämlich die psychosozialen Folgen der Zerstörung eigenständiger Subjekte, Adorno spricht gar von der „Liquidation des Ichs“. Anhand eines kleinen Beispiels soll die Verkehrung der Verhältnisse in einem ganz anderen Bereich verdeutlicht werden:

      „Statt, daß eine zur Vernunft gekommene Menschheit die gigantischen materiellen und intellektuellen Kräfte, die sich im Schoße der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt haben, zur Einrichtung einer freien Gesellschaft einsetzt, wird sie mehr und mehr zum Anhängsel des kapitalfixierten technischen Fortschritts, der sich vollständig von seinen Erzeugern losgerissen hat und diese wie bloße Anhängsel mitschleift. Eine symbolische Darstellung dieses Sachverhalts hat kürzlich ein englisches Busunternehmen geliefert, dessen Busfahrer die Wartenden an den Haltestellen nur selten mitnahmen. Als sich die verschmähten Fahrgäste eines Tages beschwerten, bekamen sie vom Unternehmer die verblüffende Erklärung, anders könne der strikte Fahrplan nicht eingehalten werden.“22

      Die zweifellos gestiegenen Möglichkeiten, aus allen denkbaren Angeboten zu wählen, haben für das Subjekt auf den ersten Blick eine Freiheit eröffnende Funktion. Beim zweiten Blick sieht die Sache aber schon etwas anders aus: Die Möglichkeit, aus allem wählen zu können, führt zu einer „neuen Unübersichtlichkeit“23. Das spätmoderne Subjekt weiß, dass es alles wählen kann, und steht angesichts dieser Möglichkeit völlig überfordert da. Ohne übergeordnetes Bezugssystem – sei es religiös, sei es philosophisch, politisch oder ästhetisch – bleibt dem Einzelnen nichts anderes übrig, als eigenständig Sinn zu produzieren oder auf eigene Sinnressourcen zu rekurrieren. Angesichts radikaler Pluralität

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