Aktive Gewaltfreiheit. Группа авторов

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Blick auf die Textstruktur der fünften These gefragt: Wie fügen sich die offenkundige Anspielung auf die Talionsformel „Aug‘ um Auge“ und die in sich sehr unterschiedlichen folgenden drei Beispiele und schließlich noch die Aufforderung zum Umgang mit Bittstellern zu einer kohärenten Deutung zusammen?

      Gemeinhin setzt die Interpretation der fünften These bei den Überlegungen zum „ius talionis“ an, auf das im Eingang des Abschnitts unstrittig Bezug genommen wird. Rechtsgeschichtlich lässt sich die Funktion der Formel gut beschreiben; sie steht für eine Begrenzung der Rache, schließlich auch für die Regelung von Wiedergutmachung bei angerichtetem Schaden (vgl. Ex 21,22-25). Aber wie stark dieser Hintergrund auf die matthäische Perikope einwirkt, lässt sich traditionsgeschichtlich nicht ableiten. Es spricht viel dafür, dass die Talionsformel eher eklektisch verwendet wird, losgelöst von den pentateuchischen Kontexten (vgl. noch Lev 24,19f; Dtn 19,21) und den zeitgenössischen jüdischen Rechtsdiskussionen, und dass sie zugleich pointiert eingesetzt wird, um als bekannter Aufhänger einen Akzent zu setzen: Das Kurzzitat der Formel und das anschließende Jesus-Wort sind verbunden durch die dreimal gesetzte Präposition „anti“; darauf also liegt der Akzent. Die Talionsregelungen der Tora werden nicht umfassend aufgenommen, es wird nur auf ein Element angespielt, erst recht kommen nicht die komplexen rechtlichen Regelungen ihres praktischen Gebrauchs in den Blick. Bleiben wir eng am Wortlaut, dann geht es Jesus um die Vermeidung einer Anti-Haltung, um den Wechsel von einer „Logik“, einem Verhaltensmuster zu einem anderen, einem besseren. Die Verwendung eines Zitats aus einem Gesetzeskorpus verleitet Ausleger leicht dazu, als Hintergrund von Mt 5,38-42 einen Gerichts- oder Prozesskontext anzunehmen; diese Vermutung passt allerdings nur für das zweite Beispiel, in dem direkt vom Prozessieren die Rede ist.

      Das führt zu einem weiteren Auslegungsproblem: Worum geht es in den längst sprichwörtlich gewordenen Beispielen von der anderen Wange, dem Gewand und der zweiten Meile? Was ist gemeint, worauf zielen sie ab und wie erklärt sich ihre Zusammenstellung? In welcher Weise lassen sie sich mit dem Aufruf zur Überwindung einer Anti-Haltung verbinden? Hier ist auch besonders auf die Abschlussmahnung in V. 42 zu achten, die vordergründig ganz anders gelagert ist und wie ein mitgeschlepptes Traditionsstück wirken mag, das nur ungefähr in den Zusammenhang zu passen scheint.

      Es ergeben sich zahlreiche Fragen zur Deutung der fünften These. Leichter scheint es zu fallen, den Zusammenhang der fünften und sechsten These zu erfassen. Aber ist mit der Zuordnung – „Verzicht auf ‚Widerstand‘ als negativer Seite und Feindesliebe als positiver Entsprechung“ – die Pointe in vollem Umfang erfasst? Welche Bedeutung hat die geforderte „Liebe“ in Bezug auf den Feind? Und welche Rolle hat die volltönende Abschlussformulierung, die Forderung einer gottgleichen „Vollkommenheit“ (so die durchgängige Übersetzung) in Bezug auf die Feindesliebe und möglicherweise die gesamte Thesenreihe?

      Ich schlage angesichts dieser Interpretationsprobleme besonders der fünften These vor, nicht mit der enigmatischen Einleitung in Mt 5,38f zu beginnen, sondern den Nahkontext der Bergpredigt als Interpretationshilfe zu nutzen, und zwar in zweifacher Weise: zum einen stärker auf den Zusammenhang der beiden Thesen zu achten und zum anderen die auffälligen Signale einer kontextuellen Einbindung gerade dieser beiden Absätze aufzugreifen.

      Die fünfte und die sechste These weisen im Aufbau große Gemeinsamkeiten auf, die den intuitiv erfassten inneren Zusammenhang, die Diskussion von Alternativen im Umgang mit dem Bösen und speziell dem Feind, unterstreichen und die zahlreichen Einzelüberlegungen in ein größeres Bild integrieren. Beide Abschnitte sind dreiteilig aufgebaut. Auf die zugespitzte Disputation (Zitat der überlieferten Position – dazu die Lehre Jesu) als Aufmerksamkeitserreger in 5,38.39a//43-45a folgt jeweils eine Beispielreihe in 5,39b.40f und 46.47; am Schluss steht in beiden Fällen eine markante Forderung in 5,42 und 48.

      Nachahmung Gottes, kein „Passivismus”

      Anders als die vier vorangehenden Thesen in Mt 5,21-37 sind die fünfte und sechste These über den jeweiligen Abschlussgedanken stark in den Fortgang der Bergpredigt eingebunden. Bei der Vollkommenheitsforderung in 5,48 fällt das sofort auf; die Wendung „himmlischer Vater“ bzw. „Vater in den Himmeln“ und „dein Vater, der im Verborgenen ist“ wird mit einem Dutzend Vorkommen vor allem in Mt 6 zu einem Leitwort im Mittelteil der Bergpredigt, findet sich aber auch noch in Mt 7,11 und 21.

      Auf andere, aber ebenso nachdrückliche Weise, wird die fünfte These in den Zusammenhang eingebunden und theologisch fokussiert. Der Verhaltensratschlag aus Mt 5,42 („Dem dich Bittenden gib, und von dem von dir borgen Wollenden wende dich nicht ab“) findet ein theologisches Pendant in 7,7-11:

      7 Bittet, und euch wird gegeben werden!

      Sucht, und ihr werdet finden!

      Klopft an, und euch wird geöffnet werden!

      8 Denn jeder Bittende bekommt,

      und der Suchende findet,

      und dem Anklopfenden wird geöffnet werden.

      9 Oder welcher Mensch ist unter euch,

      den sein Sohn um Brot bitten wird,

      wird er ihm etwa einen Stein geben?

      10 Oder auch um einen Fisch wird er bitten,

      wird er ihm etwa eine Schlange geben?

      11 Wenn also ihr – böse Seiende – gute Gaben zu geben wisst,

      wieviel mehr wird euer Vater in den Himmeln

      gute geben den ihn Bittenden?

      Das Thema Bitten und Geben dominiert den Mittelteil der Bergpredigt; im Vaterunser Mt 6,9-13 weist Jesus die Jünger/innen an, sich in allen wesentlichen Belangen bittend vor den „Vater im Himmel“ zu stellen; der weiß, was sie brauchen, schon lange bevor sie ihn bitten (vgl. 6,8). Die Reihe der Bitten im Vaterunser kulminiert in der Bitte um Rettung vor dem Bösen (6,13). Jede menschliche Auseinandersetzung mit dem Bösen steht folglich in diesem theologischen Bezugsfeld: Gott soll vor dem Bösen retten; alle Arbeit an der Überwindung des Bösen ist getragen vom Vertrauen auf Gottes Rettungswillen und Befreiungsmacht.

      Der geforderte Umgang mit dem Bösen und mit dem Feind folgt in der Bergpredigt nicht allein Klugheitsregeln, die aus der Erfahrung gewonnen wurden und sich bewährt haben, sondern wird in einen direkten Zusammenhang mit dem Gottesbild gebracht: Es geht um die Nachahmung des Verhaltens Gottes. Jesus zeichnet in der Bergpredigt einen Gott, der allen Menschen vorbehaltlos entgegenkommt. Aus beiden Aspekten speist sich diese „Logik“: Gottes Sorge gilt allen, und sie liegt dem Verhalten der Menschen voraus. Der Maßstab ist allein Gottes Vatergüte. Die einzige Festlegung, die damit zugelassen ist, besteht in der Kindschaft gegenüber dem himmlischen Vater; nur sie ist Vorgabe, Leitbild und Ziel allen menschlichen Tuns: „damit ihr Söhne eures Vaters in den Himmeln werdet“ (5,45a).

      In diesen Horizont muss sich das Verhalten der Menschen zueinander einfügen. Das scheint in den gewöhnlichen Alltagsverhältnissen keine besonderen Schwierigkeiten zu bereiten, erst recht, wenn ich in einer Position der Stärke bin und ein anderer mir als Bittsteller begegnet. Nur der Gestus des Entgegenkommens entspricht der allem vorausliegenden Vatergüte. Die fünfte These nimmt nun aber Situationen in den Blick, die nicht zu diesem einfachen Muster passen. Was ist zu tun, wenn der andere stärker ist und ich unterlegen bin? Was ist zu tun im Fall der Konfrontation mit Gewalt? Wie stellt sich die beschriebene Logik im Fall von Unrechtserfahrungen dar? Formal gesprochen ist in der Bergpredigt eine binäre oder dualistische Handlungslogik ausgeschlossen. Zur aufgezeigten Gesamtlinie passen nur Verhaltensweisen, die an Gottes Überwindung des Bösen festhalten und alle Beteiligten als Kinder des himmlischen Vaters anerkennen. Alles muss von der Güte des einen Vaters bestimmt

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