Wohltöter. Hansjörg Anderegg
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Er meinte es keineswegs ironisch, sprach offenbar aus Erfahrung.
»Noch wissen wir nicht, ob die Navy betroffen ist«, betonte sie. »Wir haben nur Hinweise auf die Art des Gebäudes, das wir suchen.«
»Und genau das werden wir tun«, nickte er. »Geben Sie eine neutrale, aber möglichst detaillierte Suchmeldung an die Dienststellen rund um die Themsemündung in Kent und Essex heraus. Keine Aktion, nur Meldung, verstanden?«
Vielleicht handelte es sich doch um eine Abrechnung unter den Clans. Chris zweifelte daran, aber sie konnten bisher keine Möglichkeit ausschließen. Es gab zwar keinen Beweis, dass der junge Pakistani ins Wasser gestoßen worden war, aber gegen die Hypothese eines simplen Unfalls sprach die erste, verschwundene Leiche. Die beiden Fälle hingen mit großer Wahrscheinlichkeit zusammen, aber auch das war nicht sicher. Was allerdings eine Schweineniere mit einer Familienfehde zu tun haben sollte, verstand sie am allerwenigsten.
Sie hatte Rutherfords Glashaus schon verlassen, als er sie zurückrief. Er hielt ihr eine Akte hin. »Der Obduktionsbefund«, murmelte er und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Erleichtert nahm sie die Klemmmappe entgegen. Sie hatte schon befürchtet, Mad Barclay würde ihr den Bericht persönlich überbringen. Den ersten Teil des Dokuments überflog sie schnell. Die Beschreibung des Leichnams und der Organe enthielt nichts, was sie nicht schon wusste. Der letzte Teil über die toxikologische Untersuchung interessierte sie mehr. Im Blut des Toten wurden keine Drogen gefunden, wohl aber Rückstände eines Medikaments, dessen Name ihr nichts sagte. Die Pathologin beschränkte sich darauf, diese nüchterne Tatsache festzuhalten, ohne zu erklären, was sie bedeutete.
»Mist«, seufzte sie schwer.
Ron, den Telefonhörer am Ohr, schaute verwundert über den Bildschirmrand. Er bot ihr einen der grasgrünen Äpfel an, die plötzlich wie durch ein Wunder auf seinem Schreibtisch lagen, während er am Telefon die immer gleichen Fragen stellte. Sie betrachtete das Obst misstrauisch, rieb, bis es glänzte, dann biss sie vorsichtig hinein. Die Säure fühlte sich angenehm frisch an. Sie ließ sich Zeit beim Kauen. Zeit, die sie brauchte, um sich auf das unvermeidliche Gespräch mit der gefährlichen Pathologin vorzubereiten.
»DS Hegel!«, freute sich Dr. Barclay mit einer Stimme, als hätte sie eine 0909 Nummer gewählt. »Ich wusste, Sie würden anrufen. Im Augenblick habe ich allerdings sehr wenig Zeit für Sie …«
Chris dankte dem Himmel. »Kein Problem, Doctor«, unterbrach sie schnell. »Ich habe nur eine ganz kurze Frage zu Ihrem Obduktionsbericht.«
Ein langgezogenes »Jaaa?« war die Antwort.
»Der Tote hat das Medikament Thymoglobulin im Blut, und Sie erwähnen explizit, dass kein Tacrolimus nachzuweisen ist. Was bedeutet das?«
»Eine kurze Frage, sagten Sie. Meine Liebe, die Antwort könnte dauern. Wollen Sie nicht lieber …«
»Ein knapper Hinweis würde mir genügen.« Mit der Elektronik der Telefonverbindung zwischen ihnen war es leichter, Abstand zu wahren, fand Chris.
»Wie Sie meinen.« Sie hörte Dr. Barclay die Enttäuschung an. »Also, kurz gesagt geht es um Folgendes: Die Schweineniere wurde dem jungen Mann höchstens zwei Wochen vor dem Tod eingepflanzt. In dieser Phase von Leber- und Nierentransplantationen ist es üblich, Medikamente wie ›Prograf‹, also Tacrolimus, zu verabreichen, ein Immunsuppressivum. Das Immunsystem wird dadurch geschwächt, das fremde Gewebe wird besser angenommen. Dass er kein ›Prograf‹ erhalten hat, ist für mich unverständlich.«
»Thymoglobulin statt ›Prograf‹?«
»Nein, die beiden ergänzen sich. Thymoglobulin wird verwendet, um akute Abwehrreaktionen zu verhindern. Es tötet T-Lymphozyten, weiße Blutkörperchen. Die Behandlung ist sehr heikel, da sich der Patient extrem leicht infizieren kann, weil sein Abwehrsystem nicht mehr funktioniert. Daher die schwere Lungenentzündung. Die Thymoglobulin-Therapie findet deshalb praktisch ausschließlich in keimfreien Klinikräumen statt.«
»Herzlichen Dank, Doctor. Sie haben mir sehr geholfen.«
Sie legte auf, bevor die Pathologin doch noch mehr Zeit für sie erübrigen konnte.
»Neues von Mad Barclay?«, fragte Ron grinsend.
»Allerdings. Unser Container muss mit ziemlicher Sicherheit auch eine moderne Klinik sein.«
Kapitel 3
South Kensington, London
Wieder hörte Chris das ungewohnte Geräusch. Mit geschlossenen Augen drehte sie sich auf den Rücken. Es war Samstagmorgen. Gab es einen Grund, die Augen aufzuschlagen? Das hartnäckige Geräusch. Sie blinzelte. Es war düster im Zimmer. Die weiße Decke wirkte alt und grau. Das Geräusch kam vom Fenster. Ein steifer Wind schmetterte schwere Tropfen an die Scheibe. Das Trommeln hatte sie geweckt. Mürrisch schaute sie auf die Uhr und sprang mit einem Satz aus dem Bett. Schon nach neun. Sie erinnerte sich plötzlich wieder an den Grund für das Aufstehen am freien Samstag. Die Gründe, um genau zu sein. Während der hektischen ersten Woche beim Yard war so ziemlich alles Private liegen geblieben. Morgens vor sieben ohne Frühstück aus dem Haus, nachts kaum vor Mitternacht ins Bett, todmüde und doch den Kopf voll neuer Eindrücke, Theorien und Zweifel, die sie lange nicht einschlafen ließen. Ihr neues Leben in der City war geprägt von einem eklatanten Mangel an Zeit. Das Apartment brauchte dringend eine Putzfrau, obwohl sie es kaum benutzte. Die Umzugskartons in Flur und Wohnzimmer blickten sie mit jedem Tag vorwurfsvoller an. Sie war weit davon entfernt, den Rhythmus zu finden, den man hier brauchte, um längere Zeit unbeschadet zu überleben. Sie hatte nicht einmal ihre Dreizimmerwohnung im Griff, geschweige denn ihr gesellschaftliches Leben.
»Welches soziale Leben?«, fragte sie die sperrige Schachtel mit dem Aufdruck ›BILLY Bookcase‹.
»Alles braucht seine Zeit«, antwortete die Schachtel.
»Und genau die habe ich nicht.«
Was konnte sie anderes erwarten von einem Stück Pappe. Sie schlurfte lustlos in die Küche. Die stumme Zwiesprache mit dem Kühlschrank blieb kurz und heftig. Nach einem Blick ins leere Eierfach schlug sie ärgerlich die Tür zu. Brot gab es zwar, aber ihr fehlte das Beil. Und draußen regnete es von allen Seiten, als hätte der Himmel beschlossen, die Stadt einmal gründlich zu waschen.
»Das ist gemein, weißt du das?«, schalt sie den Kühlschrank.
Vorsichtig, als dürfte sie nicht stören, prüfte sie die Kaffeemaschine, ihre letzte Hoffnung auf ein menschenwürdiges Erwachen. Bohnen waren da, Wasser auch, mehr brauchte sie nicht. Mit der Belebung ihres Geistes flammte die Erinnerung an ihr fehlendes Sozialleben wieder heftig auf. Überrascht stellte sie fest, dass sie möglicherweise ein Problem hatte. »Du lässt niemanden an dich ran«, hörte sie ihre Mutter händeringend ausrufen. Sie hatte den Vorwurf nie begriffen. Die lange Ausbildung, die ersten, harten Jahre in Wiesbaden, die geschlossene Gesellschaft in Oxford, zwei, drei lockere Affären, an ein anderes Leben hatte sie nie gedacht. Soziale Kontakte musste sie nie suchen, sie waren einfach passiert. Bisher.
»Bis jetzt hast du dich auch nie mit Schachteln unterhalten«, sagte ›BILLY‹.
Höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Wozu gab es Nachbarn? Sie duschte, zog dem schlechten