Wohltöter. Hansjörg Anderegg

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Wohltöter - Hansjörg Anderegg

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rief Kate erfreut. »Guten Morgen. Kommen Sie herein.«

      Chris zögerte. »Ich möchte nicht stören. Ich hätte nur eine Bitte. Haben Sie eventuell zwei Eier für mich übrig?«

      »Sie haben noch nicht gefrühstückt«, lachte Kate. »Kommen Sie herein, keine Widerrede. Ich habe auch Speck und Bohnen.«

      Die Ausrede lag ihr auf der Zunge, aber der Gedanke an ihr Sozialleben ließ sie doch eintreten. Die verspielte Wohnungseinrichtung, die Pastellfarben und Rüschen an den Vorhängen muteten an, als wohnte hier ein romantischer Teenager. Sie schätzte Kates Alter auf etwa 35, ähnlich wie ihres. Auch die äußerliche Ähnlichkeit war erstaunlich. Selbst die Andeutung einer Stupsnase fehlte nicht. Nur im Geschmack unterschieden sie sich fundamental.

      Kate stellte ein perfektes Arrangement mit Spiegelei, Speck, weißen Bohnen und gegrillter Tomate vor sie hin. Es duftete zu verführerisch, um zu protestieren. Sie ließ sie eine Weile in Ruhe essen, dann fragte sie unvermittelt:

      »Sie arbeiten bei Scotland Yard?«

      Chris nickte langsam. »Woher …«

      »Im Haus wird getuschelt«, lachte Kate. »Es sind nicht alle so sprachlos, die hier wohnen. Mr. Henderson, der Hausmeister, zum Beispiel. Der redet gerne. Er hat die vertrauliche Information wohl von der Hausverwaltung. Aber ich hab’s nicht weitergesagt.«

      Chris zuckte die Achseln. »Es ist kein Geheimnis. Von mir aus darf es jeder wissen.«

      »Mein Gott, ich stelle mir das aufregend vor, wie im Fernsehen. Völlig falsch und irre, nicht wahr?«

      Chris schmunzelte. »Ich schaue selten Krimis, und wenn, dann alte Filme mit rauen Sitten, wo sich der Gute nur durch den fehlenden Schlips vom Bösen unterscheidet.«

      Kate nickte begeistert. »Humphrey Bogart, Michael Caine, Bob Hoskins.«

      »Eher den französischen ›Film Noir‹, Delon, Belmondo, die Art. Ich war einmal richtig verknallt in Alain Delon.«

      »Oh, kenne ich leider nicht. Na ja, so wie in den Filmen wird’s wohl bei Scotland Yard nicht zugehen. Trotzdem beneide ich sie ein wenig.«

      »Wieso das denn?«, wunderte sich Chris. Sie liebte ihren Job, hielt sich aber für eine Ausnahme. Welcher normale Mensch mit hervorragender Ausbildung wollte sich schon freiwillig mit Gewalt, Mord und Totschlag beschäftigen, bei bescheidenem Gehalt und jeder Menge unbezahlter Überstunden. Sie musste eine psychisch gestörte Ausnahme sein, anders konnte sie sich ihr Verhalten selbst nicht erklären.

      Kate hatte andere Vorstellungen: »In Ihrem Job blicken Sie hinter die Fassaden, lernen die wahre Natur und die dunklen Geheimnisse der Leute kennen. Das ist doch viel interessanter, als Termine von Patienten und Ärzten zu koordinieren. Ich bin Arztgehilfin, müssen Sie wissen.«

      »Ärzte haben manchmal auch ihre dunklen Seiten«, murmelte Chris beim Gedanken an Mad Barclay.

      Kate überraschte mit der prompten Antwort: »Oder Ärztinnen.«

      Chris’ Telefon piepste. Mit einer Entschuldigung zog sie es aus der Tasche. Der Bildschirm zeigte den Empfang einer neuen E-Mail an. »Letzte Warnung!«, stand im Betreff.

       Liebe KollegInnen,

       heute Nachmittag ist es soweit. Ich werde euch für zwei Jahre verlassen. Wie schon angekündigt, sind alle, die sich über meinen Abgang freuen oder um mich weinen werden, herzlich eingeladen. Ab 14 Uhr geht’s los im Jazz Keller des Big Bang. Bier und Bangers hat’s, solang’s hat.

       Euer Marcus

      Sie hatte Marcus’ Ankündigung völlig verdrängt. Auf seine erste Mail vor einem Monat hatte sie mit einem zurückhaltenden »Vielleicht« geantwortet. Damals stand noch nicht fest, wann sie ihren Job in London antreten würde. Der Hauptgrund ihres Zögerns war jedoch die reichlich chaotische und am Ende recht einseitige Affäre, die sie mit dem Abenteurer gehabt hatte.

      Sie stand auf, bedankte sich bei Kate und entschuldigte sich: »Ich muss leider wieder.«

      »Hab ich’s nicht gesagt? «, lächelte Kate unter der Tür. »Das meinte ich mit ›interessant‹.«

      Die ›IKEA‹-Schachtel stand immer noch untätig in ihrer Wohnung herum, aber sie glotzte nicht mehr gar so vorwurfsvoll, und sie schwieg. Beinahe hätte Chris zum Kreuzschraubenzieher gegriffen, den sie am Vorabend bei Wilson gekauft hatte. Den Staubsauger ließ sie ebenso in Ruhe, denn vor dem Fenster zeigte sich der erste blaue Fleck am Himmel. Das Unwetter verzog sich. Es versprach, ein ganz ordentlicher Samstag zu werden. Entschlossen tippte sie ein paar Mal auf ihren Handy-Bildschirm. Wenn sie nicht trödelte, würde sie den 12:21h Zug ab Paddington noch erreichen. Oxford, ich komme. Von wegen kein Sozialleben.

      Oxford, UK

      Als Chris in Oxford auf den Bahnsteig trat, beschlich sie das angenehme Gefühl, nicht nur an einem andern, ruhigeren Ort, sondern auch in einer andern Zeit angekommen zu sein. Eine Zeit, in der irgendwie alles einfacher war, spontan, unverbindlich und doch berechenbar. Sie beschloss, zu Fuß weiterzugehen, noch einmal durch ein paar Straßenzüge zu schlendern, die sie an ihr Studium am ›CRL‹, dem topmodernen Chemical Research Laboratory, erinnerten. Ihre Hand umschloss den Griff des Saxophonkoffers unwillkürlich fester, als sie in die Museum Road unweit des Labs einbog. Hier hatte sich nichts verändert. Das gelbe Haus mit der karminroten Tür am Anfang der Häuserzeile, eines der wenigen ohne Erker, sah genau so frisch gewaschen aus wie damals, als sie es mit den zwei schweren Koffern verlassen hatte. Selbst die dicht gedrängten Fahrräder am Zaun schienen sich nicht bewegt zu haben.

      Sie wagte einen Blick hinauf zum niedrigen Sprossenfenster im zweiten Stock. Ihr Schlafzimmer. Nicht gerade ein Hort der Tugend damals, in ihrer Zeit mit Marcus. Der Kindskopf hätte beinahe ihren Rauswurf provoziert. Kurz und stürmisch war ihre Affäre. Die Letzte übrigens, wie sie mit einem leisen Seufzer feststellte. Mit einem Urknall hatte sie begonnen, mit einem lapidaren »Hat Spaß gemacht« in der Cafeteria geendet. Warum war sie auf den Frauenschwarm hereingefallen wie die andern Tussis? Und warum stellte sie sich jetzt diese Frage? Sie verließ die Straße der Erinnerungen eilig. Erst unter den Platanen der St. Giles Street verlangsamte sie ihre Schritte.

      Bei der Abzweigung in die Little Clarendon blieb sie unschlüssig stehen. Am ›Maison Blanc‹ gegenüber war sie noch nie vorbeigegangen, ohne wenigstens ein ›Chocolate Éclair‹ zu kaufen. Die Bäckerei übte früher eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. Die Kraft spürte sie heute nicht. Kopfschüttelnd schlenderte sie weiter. Wahrscheinlich gehörte sie nicht mehr hierher. Kapitel abgeschlossen. Sie hatte das Gefühl, heute würde nicht nur Marcus seinen Abschied feiern.

      Die Jamsession im Keller des ›Big Bang‹ war in vollem Gange, als sie eintraf. Ein Volk füllte den engen Schlauch wie sonst um Mitternacht. Marcus war nirgends zu sehen, so packte sie das Instrument aus und gesellte sich zu Schlagzeug, Bass und Klarinette. Sie hörte ein paar Takte lang zu, dann fiel sie in den Chorus ein. »Baby Please Don’t Go«, wie passend, der Titel des uralten Blues-Standards. Aus Freude über die unerwartete Verstärkung verstieg sich der Holzbläser in eine abenteuerliche Improvisation. Die lebhafte Unterhaltung im Keller verstummte für einen Augenblick. Chris nutzte die Gelegenheit, um mit einem langgezogenen, jaulenden G zu ihrem Solo überzuleiten. Sie interpretierte den Part mit der gleichen flehenden Stimme, wie Muddy Waters ihn gesungen hatte. Ihre Zauberflöte wirkte Wunder. Nach wenigen Takten stand Marcus neben ihr, grinste übers ganze Gesicht und rief in die Menge:

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