Das Blut des Wolfes. Michael Schenk
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Direkt vor ihr breitete sich Wolfgarten aus.
Mit rund zweihundert Einwohnern war es eine kleine Gemeinde, aber sie wirkte ein wenig weitläufiger, da die Häuser in sehr aufgelockerter Bauweise angeordnet waren. Einfamilienhäuser und ein paar Zweifamilienhäuser dominierten das Bild. Das größte Gebäude war das neue Dorfgemeinschaftshaus an der Kreuzung im Dorfzentrum, gefolgt von der neuen Feuerwache und dem Hof des Bauern Wolicek.
Svenja seufzte leise.
Wolfgarten war ein malerischer, ein beschaulicher Ort oder, wie Svenjas Freundin Kim es formulierte, stinklangweilig. Bei den meisten anderen Dörfern gab es eine Straße, die durch sie hindurch führte. Da war immer ein gewisses Verkehrsaufkommen, oft sogar eine direkte Busverbindung. Doch an Wolfgarten glitt das Leben auf der nahen Landstraße vorbei. Wenn man einmal von den Wanderern und Touristen absah, die wegen des Naturparks und der nahen Sehenswürdigkeiten kamen. Aber die fuhren gleich zu den Parkplätzen und nahmen sich kaum die Zeit, sich das Dorf selbst anzusehen.
Aber viel hätte es wohl nicht zu sehen gegeben. Kermeter Schänke, alter Feuerwachtturm und Rangerstation lagen jeweils am Ortsrand und im Dorf selbst waren das Gemeinschaftshaus und die Feuerwache sicher keine Besucherattraktionen. Allenfalls der kleine Laden der Westphals, gegenüber dem Gemeinschaftshaus, zog gelegentlich Wanderer an, die sich dort versorgten. Oft saßen die dann am kleinen Teich im Ortszentrum, erfrischten sich mit kalten Getränken und sahen den Enten zu. Die Entenpopulation schien der von Wolfgarten ernsthafte Konkurrenz zu machen, zumindest während der Zeit, an der die Dorfbewohner ihren Arbeiten in den umliegenden Städten nachgingen. Jetzt, im Sommer, wenn das Wasser gelegentlich knapp wurde, diente der Ententeich notfalls auch als Wasserentnahmestelle für die Feuerwehr, was die Enten wenig begeisterte.
Das Wolfgarten überhaupt über eine eigene Feuerwehr verfügte, hing mit der einzigartigen Lage auf dem Kermeter Höhenzug und dem abgesperrten Bereich des Naturparks zusammen. Direkt am Dorf begann eines jener Waldareale, die man sich selbst überließ, um den Wald in seinen Urzustand zurückzuführen. So positiv dies auch für die Natur sein mochte, so gefährlich war dies im Falle eines Waldbrandes. In dem viele Hektar großen „Rückzugsgebiet“ gab es keine Feuerschneisen und keine Wege, welche man zur Brandbekämpfung nutzen konnte. Jede Verzögerung der Brandbekämpfung konnte jedoch katastrophale Folgen haben. Aus diesem Grund war die Wolfgartener Feuerwache ausgebaut worden. Sie verfügte über ein Rüstfahrzeug und ein Löschfahrzeug, deren Besatzungen von den Frauen des Ortes gestellt wurden. Da die Männer tagsüber außerhalb des Dorfes arbeiteten und lange Strecken zurücklegen mussten, besaß Wolfgarten somit eine der wenigen reinen Frauenfeuerwehren.
Die Feuerwache lag an der Haagstraße und wenn man dieser nach Norden folgte, erreichte man die kleine Burg Wolfgarten, die in alten Urkunden als „Wulffgart“ Erwähnung fand. Niemand konnte noch sagen, wer wohl einst so verrückt gewesen war, hier eine Burg zu errichten. Möglicherweise hatte die hervorragende Sicht vom Höhenzug aus den Grund geliefert. Die kleine Befestigung war noch überraschend intakt und befand sich in Privatbesitz. Der Eigentümer war ein vermögender Japaner, der keine Öffentlichkeit zuließ, die Gebäude aber gelegentlich Forschern oder Privatgruppen zur Verfügung stellte, da der alte Burgfried eine gute Aussicht auf den abgesperrten Bereich des Naturparks ermöglichte. Die Bachmanns, welche die Kermeter Schänke betrieben, betreuten diese Leute aufgrund einer Vereinbarung, die sie mit Herrn Yamahata getroffen hatten. Für die Bachmanns bot das ein Zusatzgeschäft und für Herrn Yamahata die Gewissheit, dass man auf seine kleine Burg achtete.
Die kleine Polizeiwache lag an der Straße „Wolfgarten“, dort, wo „Pützbenden“ an der Hauptstraße des Ortes endete. Ihre Besatzung bestand aus zwei Polizeibeamten, die hauptsächlich dann beschäftigt waren, wenn im Sommer Touristen den Naturpark besuchten und die Motorradfahrer verstärkt auf der L 249 unterwegs waren. Die Landstraße hatte sich zu einer Art Rennstrecke entwickelt und es kam immer wieder zu schweren Unfällen. Die kleine Polizeiwache und ihr Blitzgerät sollten daher eine gewisse „Verkehrsberuhigende“ Wirkung erzielen.
Nein, man konnte nicht sagen, dass Wolfgarten einer jungen Frau viel zu bieten hatte. Neben ihrer Freundin Kim und deren Bruder Patrick gab es keinen, der Svenjas Alter entsprochen hätte. Die meisten Freunde kannte sie noch von der Schule und diese lebten in den verschiedenen Dörfern der Umgebung und in Gemünd. Die Entfernungen schränkten ihre Möglichkeit sichtlich ein, sich mit Freunden auszutauschen oder etwas zu erleben. Meist musste sie sich auf den Heimweg machen, wenn es gerade anfing, interessanter zu werden. Daran änderte auch ihr Mofa nur wenig und Svenja überlegte gelegentlich ernsthaft, ob sie sich nicht doch einen kleinen Gebrauchtwagen zulegen sollte. Wenn sie dann allerdings die Kosten gegeneinander aufrechnete, gewann stets der Bus. Aber früher oder später, das wusste sie, würde ihr die Unabhängigkeit, die ein eigener Wagen bedeutete, die Ausgaben wert sein.
Ohne ihr Mobiltelefon und das Internet hätte sich Svenja manchmal isoliert gefühlt. Eigentlich sollte sie öfter ausgehen und niemand hätte ihr einen Vorwurf machen können, wenn sie über Nacht nicht nach Hause kam. Aber dann dachte sie immer wieder an ihren Vater und wie kurz der Weg zum Kühlschrank für ihn war. Wenn er sich zu einsam fühlte, dann griff er zum Bier und wenn er betrunken war, dann fühlte er sich noch weitaus einsamer. Nein, auch wenn er hin und wieder zu sehr über ihr Leben bestimmen wollte, so liebte sie ihn doch und konnte ihn nicht sich selbst überlassen.
Eine neue Frau, die in sein Leben trat, konnte die Lösung sein.
Aber Vanessa Schneider…?
Svenja hörte das vernehmliche Klappen der Badezimmertür aus dem Erdgeschoss.
Die Schwarzhaarige hatte sich Zeit gelassen.
Svenja ging ins Badezimmer hinunter, um in Ruhe ihr Haar zu bürsten. Sie war stolz auf ihre langen und leicht gewellten Haare, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Das Fenster im Bad war zur Lüftung gekippt, aber es hing noch immer etwas Dunst im Raum und Svenja ging hinüber und öffnete es ganz. Eher beiläufig fiel ihr Blick dabei in die Dusche. Stirnrunzelnd bemerkte sie ein dünnes Kettchen mit einem Schmuckstück, welches in der Nähe des Abflusses lag. Für einen flüchtigen Moment war sie versucht, das Fundstück mit einer kleinen Bewegung im Ablauf verschwinden zu lassen, doch dann hob sie es seufzend auf.
Das Kettchen war ein ganz gewöhnliches Goldkettchen, wie man sie überall erstehen konnte, doch das Schmuckstück war ungewöhnlich. Bei ihren Besuchen in Schmuckboutiquen hatte Svenja schon die merkwürdigsten Kreationen gesehen, doch keine ähnelte dieser. Ein sehr kleiner grüner Schmuckstein, der durch schwarze Einfassungen in sieben gleichgroße Segmente unterteilt war. In seiner Mitte befand sich ein roter Stein, der eine elliptische Form aufwies. Svenja musste unwillkürlich an die grünen Augen von Vanessa Schneider denken und lächelte bei der Vorstellung, die Frau würde rote, schlitzartige Pupillen haben. Irgendwie schien ihr das zu der Ortsvorsteherin zu passen.
Svenja legte das Schmuckstück auf die Ablage unter dem Badezimmerspiegel und machte sich daran, ihre Haare fertig zu bürsten. Dann ging sie wieder in ihr Zimmer, schaltete das Programm ihres Computers auf sanftere Musik und legte sich mit einem Fantasy-Buch aufs Bett. Sie mochte Fantasy, vor allem die Geschichten um die „Pferdelords“ und genoss es, in eine fremde Umgebung einzutauchen. Ihr Fuß wippte rhythmisch im Takt der Musik und Svenja ritt gerade durch ein fremdes Land, als die Tür ihres Zimmers aufgerissen wurde. Sie sah über den Rand ihres Buches hinweg und verzog empört das Gesicht.
„He, kannst du nicht anklopfen, Paps?“
„Ich habe angeklopft“, erwiderte er verärgert. „Aber bei dem Krawall, den du da machst, ist es ja kein Wunder, dass du nichts hörst. Mach den Lärm gefälligst leiser.“