DIE NOVIZEN. Michael Stuhr
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"Ach das! - Schilder werden älter als Hunde. Ich hatte mal ein paar schöne Dobermänner, aber das ist lange her."
"Aus dem Garten könnte man richtig etwas machen!", rief Julia quer über den Hof.
Sander blieb stehen und sah mit zusammengezogenen Brauen in ihre Richtung. "Weiberwichtigkeiten!", meinte er dann verächtlich. "Meine Holde war genauso."
Gunther tat so, als habe er nichts gehört. Zwar kam der Garten auch in seiner Prioritätenliste erst ganz zuletzt, aber so deutlich brauchte man es doch auch nicht zu sagen. Jedenfalls war er nicht bereit, Sander in allem was er sagte zuzustimmen. Der Alte schien ein Frauenbild zu haben, das mit der heutigen Zeit nicht mehr ganz vereinbar war.
"Hauptsache Sie können zwischen wichtigen und nebensächlichen Dingen unterscheiden, junger Freund", schwadronierte Sander weiter.
"Natürlich!", beeilte Gunther sich zu sagen, womit er ganz klar zugab, dass Julia das seiner Meinung nach wohl wirklich nicht konnte. Schnell sah er zu ihr hin, aber sie war weit genug weg und hatte nichts gehört.
"Mit dem Zeug hier können Sie machen, was Sie wollen." Sander stand mit Gunther in der Mitte der alten Wassermühle, die völlig mit Gerümpel aller Art vollgestopft war. Ganze Generationen mussten hier ihre unbrauchbaren Möbel und alles, was sonst im Haushalt kaputtgegangen war, entsorgt haben. Vor den trüben Fenstern rauschte das Wasser des Mühlbachs und die Wand war so feucht, dass sich schon winzige Kalkzapfen an ihr gebildet hatten.
Jede Menge alter Sachen standen hier herum, aber es lag nicht das Flair einer pseudoantiken Ramschausstellung über dem Ganzen, sondern das unangenehme Odium der Vergänglichkeit und des Verfalls. Es roch nach Moder.
Hässliche, verstaubte Ölschinken lehnten an den feuchten Wänden. Die vergoldeten Holzrahmen waren teilweise von einer Schicht grünlichen Schimmels überzogen. Sessel und Sofas mit faulenden Polstern standen kreuz und quer im Raum herum und alte Elektrogeräte waren auf wacklige Tische gepackt. Zerbrochene Stühle und rostige Ofenrohre lagen herum und die dazugehörigen ausrangierten Öfen standen und lagen im Raum, wie sie vor Jahrzehnten abgestellt worden waren. Eine riesige Fernsehtruhe mit einem winzigen Bildschirm stand flach auf dem Boden, und drei der abgebrochenen Beine hatte jemand auf das Gehäuse gelegt. Alle Gegenstände waren von einer dicken, schmierigen Dreckschicht bedeckt, und selbst die Spinnweben waren schwer von Staub.
"Oh, wie schade!" Julia hatte auf einem Sägebock in der Nähe der Fensterreihe ein achtlos darübergeworfenes Bündel Spitzengardinen entdeckt, das sich aber schon bei der geringsten Berührung in Fetzen auflöste.
Sander grunzte unwillig und Gunther warf ihm einen belustigt-verstehenden Blick zu, um Sander zu zeigen, dass er von diesen "Weiberwichtigkeiten" auch nicht viel hielt.
"Wenn Sie eine Verwendung für den Raum haben, können Sie den ganzen Mist verbrennen, oder sonst was damit machen", erklärte Sander. "Meinetwegen lassen Sie den Krempel hier auch weiter verrotten, ist mir egal."
"Ich denke, ich werde hier aufräumen", meinte Gunther. "Lagerraum kann man immer gebrauchen."
"Na dann, viel Spaß dabei. Schauen wir uns den Hof an." Sander ging hinaus.
"Im Krieg war hier eine Munitionsfabrik", sagte Sander. "Aber die Amis haben ´45 die ganzen Hallen gesprengt. - Nur ein paar Mauerreste sind übrig geblieben - aber die holt sich die Natur jetzt auch langsam zurück."
Die Drei standen auf dem gepflasterten Stück Hof, und eben gerade hatte der Alte mit großer Geste auf das umliegende Gelände gedeutet. "Da unten im Wald ist übrigens der Friedhof, aber um den brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Manchmal finden da Gedenkfeiern statt, aber das stört nicht weiter."
"Friedhof?" Gunther sah den Alten fragend an.
"Für die Arbeiter aus der Fabrik", erklärte der. "Es waren schlechte Zeiten, und der Laden war die reinste Knochenmühle. - Arbeiterknochen", schob er mt einem Grinsen nach, als er Gunthers verständnislosen Blick bemerkte. "Unfälle passieren eben. War ja schließlich kein Landerholungsheim. Hier ist gestorben worden, mein Junge."
Gunther bemerkte, dass Julia sich unauffällig ein Stück weit von ihnen entfernt hatte. Sie tat so, als interessiere sie sich sehr für die Rückseite des Schuppens. Gunther kannte das schon von ihr. Alles, was mit Tod zusammenhing, ängstigte sie maßlos. Aber sie hatte, ganz für sich selbst, einen perfekten Verdrängungsmechanismus entwickelt: Was sie nicht hören wollte, das hörte sie einfach nicht.
"Hat Ihre kleine - hm - Freundin etwas gegen Friedhöfe?", fragte Sander unnötig laut, wobei er seine Mundwinkel nach unten zog.
"Wer mag schon Gräber?" Gunther versuchte, seiner Stimme einen lässigen Unterton zu geben, aber ihm war selbst ein Schauer über den Rücken gelaufen, als Sander die umgekommenen Arbeiter erwähnt hatte. "Haben Sie auch hier gearbeitet? - Im Krieg meine ich."
"Als Technischer Direktor", bestätigte Sander. "Heute kann man das ja zugeben. - Früher war das anders! - Die Amis haben uns gejagt, mein Junge - gejagt wie die Hasen. Mitte '45 wäre ich um ein Haar geliefert gewesen."
Gunther presste die Lippen fest zusammen. Kein Erholungsheim! Knochenmühle! Er konnte sich schon vorstellen, was hier los gewesen war: Schlecht ernährte Zwangsarbeiter, zusammengepfercht in pimitiven Schlafbaracken, mörderische Akkordarbeit in Zwölfstundenschichten ... Plötzlich wollte auch er nichts mehr von der Fabrik hören, die hier mal gestanden hatte.
Julia kam wieder heran und schaute sich um. "Ist eigentlich das ganze Gelände eingezäunt?" Wenn der Alte sie auch fast vollständig ignorierte, so war sie doch der Meinung, auch einmal eine Frage stellen zu dürfen.
"Wegen der Wildschweine", bestätigte Sander knapp und ohne sie anzusehen.
Julia traute sich nicht, weitere Fragen zu stellen. Sie hasste sich dafür, aber Sander hatte sie in seiner schroffen Art so sehr eingeschüchtert, dass sie jedes seiner Worte wie einen Schlag ins Gesicht empfand. Jeder Blick und jede Geste sagten ihr, was Sander von ihr hielt. Sie war minderwertig. Sie war Gunthers Geliebte, ein Spielzeug, ein Fickverhältnis. Sie war nur - so eine Frau!
"Fünfzehn Kilometer zum nächsten Supermarkt, fast zwanzig zur nächsten Tankstelle?" Die Drei saßen wieder am Tisch, und die Rede war darauf gekommen, wo man hier die Einrichtungen finden konnte, ohne die ein modernes Leben nicht mehr vorstellbar ist. Jetzt mussten Julia und Gunther die Information erst einmal verkraften. "Da müssen Sie aber weit fahren, um einzukaufen", meinte Julia nach einer kleinen Weile des Schweigens.
"Ich fahre nicht mehr", sagte Sander, und für einen Augenblick ging sein Blick wie in weite Ferne. "Schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr." Es war, als schrumpfe seine Gestalt bei diesen Worten zusammen, und für einen Moment sah Julia ihn anders: Ein uralter Mann, der zwar unangenehme Reden führte, in seiner Hilflosigkeit aber doch irgendwie anrührend wirkte. Plötzlich tat der Alte Julia fast Leid. Es musste wirklich schlimm sein, im Alter Stück für Stück seiner Selbstständigkeit zu verlieren.
Sander löschte diesen Anflug von Mitleid jedoch sofort wieder aus. "Früher hat eine junge Frau von der Diakonie mir die Lebensmittel gebracht", gab er mit einem vertraulichen Zwinkern bekannt. "Hatte einen süßen Hintern, die Kleine. - Ich fürchte, vor zwei Jahren habe ich sie ein wenig erschreckt. Jetzt kommen jedenfalls nur noch irgendwelche wehrunwilligen Bengels."
"Na ja", meinte Gunther, "auf die Hilfe von Zivis brauchen wir beide wohl nicht zu hoffen. Wir werden uns unsere Lebensmittel schon selbst beschaffen müssen."