Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer

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Das Geheimnis des Gedenksteins - Hans Nordländer

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sagtest: »Ich sehe – warte«. Was meintest du damit?“

      „Sagte ich das? Ich erinnere mich nicht mehr. Ich habe nur einen Schleier gesehen und eine tiefe Betrübnis gespürt. Das ist alles.“

      „Was für ein Schleier und was für eine Betrübnis?“

      „Es war wie damals in der Nacht, als uns Johannes und Hannah erschienen sind. Da habe ich auch nur zwei milchige Schleier gesehen, wo die beiden standen. Im Gegensatz zu jener Nacht sandte der Schleier dieses Mal aber eine Trauer aus, wie ich sie nie vorher empfunden habe.“

      „Also hast du ihn jetzt gar nicht richtig gesehen?“, fragte Cornelia enttäuscht.

      „Genauso undeutlich wie beim ersten Mal, eben nur als Schleier oder Nebel. Wahrscheinlich hätte ich überhaupt nichts gesehen, wenn er vor der Sonne gestanden hätte. Und doch war es anders. Ich habe seine Gegenwart tatsächlich mehr empfunden als gesehen. Aber nicht sofort. Das Gefühl verstärkte sich während der Erscheinung. Und selbst, wenn ich seinen schwachen Schatten nicht gesehen hätte, hätte ich gewusst, dass er da war. Hast du nichts gefühlt?“

      Cornelia schüttelte den Kopf.

      „Nein, aber ich habe ihn deutlich gesehen. Zuerst stand er nur reglos da und blickte zu uns herüber. Dann zeigte er auf den Gedenkstein. Und kurz darauf war er wieder weg. Er löste sich genauso auf wie Hannah.“

      „Merkwürdig, wirklich merkwürdig“, murmelte Theo wie im Selbstgespräch. „Was bedeutete seine Geste?“

      „Ich weiß es wirklich nicht“, sagte Cornelia.

      Plötzlich erstrahlte Theos Gesicht.

      „Weißt du, was ich eben erlebt habe, war phänomenal und in meinem Leben bisher einmalig. Noch nie habe ich die Gegenwart eines unsichtbaren Wesens bemerkt. Aber eben war es so deutlich, als berührte mich ein leibhaftiger Mensch. Es war sogar noch eindringlicher als die Erscheinung von Hannah und Johannes in unserem Schlafzimmer. Ich gebe zu, dass ich bis heute und trotz unserer jüngsten Erfahrungen gegenüber angeblichen Geistern und ihren Erscheinungen immer noch gewisse Vorbehalte hegte. Jetzt weiß ich, dass es sie gibt. Und dieser scheint ein sehr trauriger Geist zu sein.“

      Cornelia sah Theo verdrossen an.

      „Also hast du es mir doch nicht geglaubt.“

      „Sei mir nicht böse – also gut, du bist mir böse und fühlst dich von mir hintergangen, verraten, gekränkt und getäuscht.“

      „Nicht alles auf einem Mal, aber ja, doch. So ist es wohl.“

      Er legte begütigend einen Arm um ihre Schulter und lenkte ihre Schritte auf den Weg. Nur mit Mühe widerstand Cornelia dem Wunsch, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Sein Bekenntnis hatte sie nach allem tatsächlich gekränkt, aber irgendwo in ihrem Inneren wusste sie, dass sie wenigstens ein wenig Verständnis für ihn aufbringen musste, denn schließlich waren ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht in den vergangenen Tagen wesentlich drastischer gewesen als seine. Wie es schien, reagierten ihre Sinne deutlich empfindlicher auf übersinnliche Erscheinungen als seine. Aber unerklärlicherweise taten sie das auch erst seit einer Woche. Trotzdem dauerte es eine Weile, bis sich Cornelias Enttäuschung über ihren Freund gelegt hatte. Langsam gingen sie wieder zurück.

      „Hör zu“, sagte Theo nach einer Weile bedrückenden Schweigens.

      „Was gibt es da zuzuhören?“, unterbrach ihn Cornelia.

      Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie mit Theo haderte. Meistens dauerte dieser Zustand nicht sehr lange, aber dieses Mal schien ihre Verletzung tiefer zu sein, und Theo konnte sich mehrere Gründe vorstellen, warum sie gerade in diesem Fall empfindlicher reagierte als gewöhnlich.

      „Ich glaube, es gibt einiges, warum du mir zuhören solltest, warum wir uns gegenseitig vielleicht etwas besser zuhören sollten.“

      „Das wäre schön, wenn es auch so gemeint ist.“

      „Es ist so gemeint“, sagte Theo sanft. „Auch wenn du daran zweifelst, ich habe dir geglaubt, zumindest teilweise. Warte, lass mich ausreden. Zugegeben, anfangs war ich skeptisch, wie du weißt. Aber als sich die merkwürdigen Erscheinungen häuften, wurde mir klar, dass du dir das nicht zusammenfantasiertest. Ich habe auch nicht übersehen, wie dich diese Erlebnisse bedrückt haben. Aber wir sind hier auf Phänomene in der Welt gestoßen, die mir unmöglich erschienen, und auf die ich keine Antworten hatte. Um ehrlich zu sein, ich habe immer noch keine. Ich wusste nicht, wie ich dir helfen konnte, damit fertig zu werden. Du weißt selbst, wie ich immer darüber dachte. Kurz, ich glaubte dir, dass du Dinge erlebtest, die mir fremd waren, wie den meisten Leuten, aber alles in mir sträubte sich daran zu glauben, dass es sich tatsächlich um Geistererscheinungen handelte. Für mein Verständnis durfte es so etwas nicht geben.“

      „Und? Hat sich das jetzt geändert?“, fragte Cornelia zweifelnd.

      „Seit heute, ja. Jetzt weiß ich, dass es sie gibt“, wiederholte er.

      „Und was schließt du daraus?“

      Theo zuckte mit den Achseln.

      „Fürs Erste kann ich nur sagen, dass Geistererscheinungen Realität sind, jedenfalls unsere. Und was ich heute erlebt, oder, was dem näher kommt, empfunden habe, war wirklich phänomenal. Aber was ich daraus schlussfolgern soll, weiß ich noch nicht.“

      Theo war sich überhaupt nicht klar darüber, wie phänomenal seine Beobachtung wirklich war. Zu Geistererscheinungen, hatte er gehört, kam es angeblich nur in der Dunkelheit einer Nacht oder eines finsteren Ortes, und dann konnten sie, gelinde gesagt, ziemlich beeindruckend sein. Tagsüber waren sie eher unwahrscheinlich. Dass er dabei auch eine deutliche psychische Ausstrahlung wahrgenommen hatte, war für ihn eine einmalige und noch dazu überwältigende Erfahrung. Aber was ihn dabei am meisten überraschte, war die Tatsache, dass Johannes´ Erscheinung keine Furcht bei ihm ausgelöst hatte. Dabei sollten Geistererscheinungen doch stets eine Furcht einflößende Wirkung auf ihre Umgebung ausüben. Im Fall von Cornelia hatte sich das ja auch bestätigt und für ihn bei der Erscheinung in ihrem Schlafzimmer ebenso, aber unter den Umständen dieser Begegnung fiel es ihm unerwartet leicht, die Erscheinung mit einer gewissen »Begeisterung« zu betrachten. Es ist unwahrscheinlich, dass er sie unter den Begleitumständen, unter denen sie in anderen Fällen auftraten, auch so gelassen ertragen hätte. In diesem Augenblick schien er seine Beklemmung bei dem Auftauchen von Johannes und Hannah in ihrem Schlafzimmer vergessen zu haben. Aber so wenig, wie er dieses Mal Furcht empfunden hatte, so sehr mangelte es ihm auch an Mitleid mit Johannes. Mitleid mit einem Geist war für ihn zu dieser Zeit genauso undenkbar, wie vor kurzem noch die Möglichkeit der Existenz von Geistern.

      Theos Erklärungen hatten Cornelia wieder etwas versöhnlicher gestimmt. Ihr war durchaus bewusst, dass er, so wie er über solche Dinge immer gedacht hatte, große Schwierigkeiten damit gehabt haben musste, sie zu akzeptieren. Ihr selbst war es ja schon schwergefallen, obwohl sie erdrückende Beweise erfahren hatte. Trotzdem hätte sie von ihm etwas mehr Aufrichtigkeit erwartet, auch wenn es sie gekränkt hätte. Aber dann musste sie sich eingestehen, dass er in der Absicht gehandelt hatte, ihren nervlich bedenklichen Zustand nicht noch zu verschlimmern. Und das glaubte sie ihm. Dann kam sie zu dem Schluss, dass Theo vielleicht doch nicht so ganz unaufrichtig gewesen war.

      „Also gut“, sagte sie. „Reden wir nicht mehr darüber.“

      „Bist du sicher?“

      „Wenn

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