Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer

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Das Geheimnis des Gedenksteins - Hans Nordländer

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fühlten sie sich keineswegs einsam in Weidlingen, und nicht zuletzt wegen der abgeschiedenen Lage hatten sie sich für dieses Blockhaus entschieden. Es war die einzige Liegenschaft dieser Art in dem Ort, und dass sie darauf aufmerksam wurden, war eher einem Zufall zu verdanken gewesen. Sie hatten zwar schon seit einer ganzen Weile vor, sich ein Wochenendhaus auf dem Land zuzulegen, aber zu jenem Zeitpunkt, als ihnen Weidlingen bekannt wurde, waren ihre Pläne noch nicht viel weiter gediehen, als bis zu dieser Absicht, und ihre Arbeit ließ ihnen damals nur wenig Zeit, sie in die Tat umzusetzen. Schließlich erfuhren sie durch Cornelias Bruder, der in Mellendorf wohnte, davon, dass sich einer seiner Arbeitskollegen von einem größeren Grundstück mit einem Blockhaus darauf trennen wollte. Es war das Grundstück in Weidlingen, und bis dahin hatten die beiden von diesem Nest in der Wedemark so gut wie nichts gehört. Nicht einmal in irgendeinem Zeitungsartikel, der ihnen bekannt war, war der Name Weidlingen aufgetaucht.

      Als sie es im Herbst des vergangenen Jahres besichtigten, bestätigte sich der Hinweis des Arbeitskollegen von Cornelias Bruder, der an diesem Termin aus beruflichen Gründen nicht teilnehmen konnte, dass er schon längere Zeit nicht mehr dort gewesen war. Das Grundstück war in einem abenteuerlichen Zustand und die Blockhütte bedurfte dringend einer umfangreichen Renovierung. Trotzdem übte das Anwesen einen gewissen Charme aus, auf Cornelia mehr, auf Theo, der sich ein wenig auf handwerkliche Arbeiten verstand, weniger. Am Ende gewann Cornelias Begeisterung die Oberhand über Theos Vorbehalte. Auch die Tatsache der verhältnismäßig geringen Entfernung nach Hannover spielte schließlich eine nicht unbedeutende Rolle bei ihrer Entscheidung für die Immobilie.

      Über den Preis, der dem Zustand des Anwesens durchaus entsprach, wurden sie sich mit dem Eigentümer schnell einig. Beide hegten die Vermutung, dass nicht allein die wenige Zeit, die er dort verbringen konnte, für den Verkauf ausschlaggebend war, sondern er noch andere Gründe hatte, das Grundstück loszuwerden. Aber das konnte Theo und Cornelia nicht nur egal, sondern sogar sehr recht sein.

      Als dann die Tage kürzer wurden und das Wetter aufs Gemüt drückte, schlug die Zustimmung Cornelias zu dem Erwerb ins Gegenteil um, während Theo fand, dass doch nicht alles so schlecht war, wie er befürchtet hatte. Den Garten vernachlässigten auch sie zunächst aus verständlichen Gründen, denn in der wenigen Zeit, die ihnen ihre Berufe ließen, mussten sie zuerst die Blockhütte bewohnbar machen. Dabei schwand die Zuneigung Cornelias zu dem Anwesen in dem Maße, wie Theo es erwartet hatte. Aber bis zum Frühjahr, als sie die Renovierungsarbeiten abschließen konnten, fühlte sie sich dort endlich so wohl, wie sie es erhofft hatte.

      Ihre Bereitschaft, sich auch dem Grundstück anzunehmen, blieb so lange unterentwickelt, wie sie sich von den Innenarbeiten noch nicht erholt hatten, und bis zum Sommer dieses Jahres war es nur so weit der Fall gewesen, dass sie ausreichend Platz für ihre Autos geschaffen und die Terrasse für die Gartenmöbel hergerichtet hatten. Es gab bis dahin auch keine Pläne, wie es in dieser Hinsicht weitergehen sollte, denn keiner von den beiden störte sich an dem »wildromantischen« Zustand des Gartens, wie sie es beschönigend nannten.

      Theo ging einen engen, halb zugewachsenen Waldweg, einem Wildwechsel ähnlicher als einem richtigen Weg, entlang. Es war ein feuchtkalter Aprilmorgen und starke Windböen trieben immer wieder Schneeregenschauer über das Land. Er war früh von zu Hause aufgebrochen und die Morgendämmerung war noch nicht ganz vorüber. Über seine Schulter hatte er eine bereits ziemlich mitgenommene Wildledertasche geworfen, von der er wusste, dass sie ein kärgliches Mittagessen, bestehend aus zwei Stücken hartes Brot und einer dicken Scheibe Speck, sowie neben einer Flasche Wasser und einem Messer noch ein paar andere Dinge enthielt, die er bei seiner Arbeit benötigte. Darüber, wie armselig seine Mahlzeit war, verschwendete er keinen Gedanken, er war an nichts anderes gewöhnt, war es doch seine tägliche Ration, wenn er seinem Broterwerb nachging.

      In seinen Händen trug er eine große Axt und eine Säge, die er für sein Vorhaben benötigte. Er kam nicht allein. In seiner Begleitung waren noch zwei andere Holzfäller, ähnlich bepackt wie er. Ihre Namen waren Hans Güldner und Jost Fellgerber. Sie waren eine Gruppe von Holzfällern, die sich als Tagelöhner ihr Brot verdienten. An diesem Tag sollten sie im Auftrag der Vogtei eine Schonung am Brelinger Berg durchforsten, die ein ganzes Stück von ihrem Dorf Wiedling entfernt war, deshalb hatten die Drei früher als sonst ihre Heime verlassen.

      Theo schlug den Kragen seiner Jacke höher, als der Schneeregen wieder einmal zunahm. Er fröstelte. Seine Kleidung war schon klamm, und wenn es so weiterging, würde sie bis zum Vormittag durchnässt sein. Aber das störte ihn nicht. Er war das Arbeiten im Wald zu jeder Jahreszeit gewöhnt und so ungemütlich dieser Tag auch war, machte ihm das Wetter doch nichts aus. Er hatte schon schlimmere Tage erlebt, im Winter bei klirrender Kälte. Dabei hatte er sich schon einige Male Erfrierungen geholt. Bisher war er aber davon verschont geblieben, dass ihm Zehen oder Finger von einem Arzt abgenommen werden mussten. Was ihm an diesem Tag bei dem feuchtkalten Wetter dagegen mehr zu schaffen machte, das war sein Bein. Er hatte es sich als Kind gebrochen, und es war nie wieder richtig zusammengeheilt. Seither humpelte er. Schlimmer aber war die Wetterfühligkeit, unter der er seitdem litt. Und an diesem Tag waren die Schmerzen besonders stark. Er war froh, dass seine Frau ihm an diesem Morgen noch das rote Halstuch mitgegeben hatte. Es bot einen guten Schutz vor dem kalten Wind und verhinderte, dass ihm Regentropfen in den Nacken fielen. Theo lebte mit seiner Frau und seinen bis dahin drei Kindern in ärmlichen Verhältnissen. Sie besaßen immerhin ein kleines Haus mit wenigen Räumen, aber nur die Küche konnte mithilfe einer einfachen Kochstelle notdürftig beheizt werden. Trotzdem war es mehr, als viele andere zu dieser Zeit hatten.

      Theo war auch keineswegs unglücklich. Seine Familie war zwar arm, brauchte aber keinen Hunger zu leiden, denn neben seiner Arbeit hielten sie ein paar Tiere: Geflügel, Ziegen und Schweine, außerdem besaßen sie einen kleinen Garten und der herbstliche Wald bot einige Möglichkeiten, den Brotschrank aufzufüllen. In guten Jahren, wenn er mehr Tiere aufziehen konnte, als sie selbst brauchten, konnte Theo auch schon einmal ein Schwein oder eine Ziege auf dem Markt in Brelingen verkaufen. Doch das letzte Jahr war nicht gut verlaufen, er hatte einige Tiere verloren und so hatten sie gerade genug für sich selbst.

      An all diese Dinge dachte er an diesem Morgen jedoch nicht. Er befand sich in einer seltenen Hochstimmung. An diesem Tag sollte sein viertes Kind geboren werden. Vielleicht war es bereits auf der Welt, wenn er am Abend wieder nach Hause kam. Dass er aus diesem Grund jedoch bei seiner Frau blieb, war undenkbar. Keinem Mann in seiner Zeit wäre das eingefallen. Was hätte er dort auch tun sollen? Kinder zur Welt bringen war Sache von Weibern, und er wusste seine Frau in den guten Händen einer Hebamme und von drei Frauen aus der Nachbarschaft. Das hielt ihn aber nicht davon ab, von einer erwartungsvollen Freude erfüllt zu sein.

      Im Laufe des Vormittags befiel ihn jedoch das dumpfe Gefühl, dass irgendetwas mit ihm nicht so war, wie es sein sollte. Die drei Holzfäller hatten wie üblich nicht viel gesprochen. Den weitaus größten Teil seiner Unterhaltung hatte er mit sich selbst geführt. Auch das war nichts Ungewöhnliches. Irgendwann aber war ihm aufgefallen, dass sie untereinander in einer niederdeutschen Mundart sprachen, die ihm merkwürdig fremd vorkam, und er gelangte immer mehr zu der Einsicht, dass es nicht die Sprache war, die er sonst verwendete. Das rief in ihm das verwirrende Gefühl hervor, sich in einer Art Traum zu befinden.

      Obwohl Theo alles um sich herum klar erkannte, die klamme Kleidung auf seiner Haut spürte und auch den Schmerz seines Beines oder wenn er sich bei der Arbeit eine Verletzung zufügte, überkam ihn von Zeit zu Zeit das verstörende Gefühl, nicht dorthin zu gehören, wo er sich befand, seiner Umgebung auf seltsame Weise entrückt. Es war ein ungemein klarer Traum, und wenn er nicht darüber nachdachte, verließ ihn diese Verwirrung wieder, um bei der nächsten Gelegenheit zurückzukehren.

      Er hieß Theo, daran gab es keinen Zweifel, eigentlich Theophemus, aber alle nannten ihn Theo, und er war Holzfäller. Aber es befremdete ihn, wenn die anderen beiden ihn mit Heinrich anredeten. In diesen Augenblicken überfielen ihn erneut nicht nur die unerklärliche Verwirrung und der Eindruck, in einen Tagtraum eingetaucht zu sein. Es überkam ihn auch die beunruhigende Gewissheit, tatsächlich

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