Das Geheimnis des Gedenksteins. Hans Nordländer

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Das Geheimnis des Gedenksteins - Hans Nordländer

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letzten Besuch in ihrem Wochenendhaus nach den unerklärlichen Erscheinungen beinahe fluchtartig davongefahren war, schien so ähnlich zu denken, denn Theo spürte, dass sie seine Worte tatsächlich nicht besonders lustig fand. Er ahnte nicht, dass sie das Blut auf seinem Kissen noch mehr erschreckt hatte, als sie zeigte.

      Beim Frühstück waren beide bemüht, über andere Dinge zu sprechen. Keiner von beiden erwähnte die unheimlichen Ereignisse auch nur mit einem Wort. Es kam aber auch nicht der Eindruck auf, als ob die beiden nach allem besonders bedrückt waren. Jeder von ihnen war (mit einigem Erfolg) bestrebt, dem anderen nicht zu zeigen, wie nachdenklich ihn die Ereignisse stimmten. Aber zum einen konnten sie vorerst nur wenig tun, um die Rätsel zu lösen, zum anderen wollte sie sich nicht gegenseitig durch laute Grübeleien die Stimmung vermiesen.

      Dazu gab es an diesem Morgen auch keinen Grund, wenn man von den Ereignissen in der Nacht absah, denn das sommerliche Wetter setzte sich fort. Schon in der Frühe war es angenehm warm draußen und die Vögel führten ein Heidenspektakel auf. Als die beiden sich dann nach dem Frühstück auf den Weg machten, war es schon sehr warm und die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel.

      Obwohl Theo vorgeschlagen hatte, sich noch einmal den Gedenkstein für den ermordeten Holzfäller anzusehen, versprach er sich nicht sehr viel davon. Er hatte es nur getan, weil er keine bessere Idee gehabt hatte, Cornelia aber zeigen wollte, dass er ihre beunruhigenden Erlebnisse ernstnahm, und inzwischen tat er es tatsächlich. Er hätte aber nicht zu sagen vermocht, welche Erkenntnisse er dort erwartete. Seine Hoffnung war, dass Cornelia vielleicht noch einmal etwas sah, was ihnen weiterhalf, und dass sie mit ihm in ihrer Nähe nicht wieder so schreckhaft darauf reagieren würde. Aber wegen dieser Hoffnung regte sich in ihm auch unterschwellig ein schlechtes Gewissen. Es kam ihm fast so vor, als benutzte er Cornelia als Köder, um die seltsamen Erscheinungen, von denen sie gesprochen hatte, aus der Reserve zu locken.

      Bis zu diesem Morgen hatte Cornelia ihre widerstrebende Gefühle, noch einmal zu dem Gedenkstein zurückzukehren, kaum gespürt, aber als sie das Haus verließen, machten sie sich unangenehm bemerkbar. Auf ihrem Weg wuchs ihr Unbehagen.

      6. Erste Spuren

      „Dort ist er“, sagte Cornelia und zeigte in die Büsche.

      Theo konnte nichts erkennen, aber das war auch kein Wunder, schließlich stand der Gedenkstein einige Schritte vom Weg entfernt und wurde von hüfthohem Farnkraut verdeckt. Nicht ohne Grund hatte Cornelia ihn nur durch einen Zufall entdeckt.

      „Nicht leicht zu finden“, meinte Theo.

      Cornelia ließ ihm den Vortritt.

      „Sei vorsichtig“, sagte sie.

      Dann, als sie vor dem Gedenkstein standen, war ihr Unbehagen aus einem unerfindlichen Grund wieder verschwunden, trotzdem hielt sie es für angebracht, ihren Freund zu warnen. Sie erinnerte sich noch gut an das unangenehme Kribbeln in ihrem Arm.

      Der Gedenkstein sah nicht anders aus als vor einer Woche, aber wie anders hätte er auch aussehen sollen? Theo hielt die Mahnung Cornelias trotz ihrer Schilderungen der Vorkommnisse für übertrieben. Er ging vor dem Stein in die Hocke, während Cornelia hinter ihm stehen blieb.

      Der größte Teil des Mooses, das Cornelia weggekratzt hatte, lag vor dem Stein, ein kleinerer auf seiner Spitze wie eine Kappe oder ein Haarbüschel. Theo strich mit seiner Hand über die Oberfläche. Cornelia hielt unwillkürlich den Atem an, aber nichts geschah. Der Stein verhielt sich so, wie man es von einem gewöhnlichen Gedenkstein erwarten konnte. Auch Theo las:

      Zum Gedenken an den Holzfäller

      Heinrich Kreutzner

      † 10. April 1740

      Von Wilderern erschlagen

      „Und, hast du etwas gespürt?“, fragte Cornelia.

      Theo schüttelte den Kopf.

      „Nein, nichts. Ich habe auch nichts gesehen. Willst du es einmal versuchen?“

      Cornelia zögerte, doch dann berührte auch sie den Stein, konnte aber ebenfalls keine Wirkung feststellen.

      Theo richtete sich wieder auf.

      „Aber da war etwas – Unheimliches“, sagte Cornelia bestimmt. „Ich habe mir das doch nicht ausgedacht. Ich habe die Bilder gesehen und das Kribbeln in meinem Arm gespürt, als floss Strom durch mich hindurch.“

      Cornelia hörte sich an wie ein kleines Mädchen, das, allein, etwas gesehen hatte, was ihr keiner glaubte, weil diejenigen, denen sie es später zeigen wollte, es nicht sahen, da es nicht mehr da war. Im Grunde verhielt es sich ja auch so ähnlich, nur dass Cornelia ein großes Mädchen war.

      „Ich glaube es dir ja“, erwiderte Theo besänftigend. „Seither ist ja auch noch mehr Unerklärliches passiert. Ich habe nur keine Ahnung, wie wir das alles unter einen Hut bringen sollen.“

      Cornelia wusste auch keinen Rat, aber sie schlug vor, etwas über diesen Heinrich Kreutzner in Erfahrung zu bringen.

      „Ob´s weiterhilft, weiß ich nicht“, meinte sie. „Aber es wäre immerhin ein Anfang.“

      Sie gingen wieder zurück auf den Waldweg. Cornelia drehte sich noch einmal zu dem Gedenkstein um – und erstarrte.

      „Theo! Er ist hier!“, sagte sie erschrocken.

      „Wer ist hier?“

      „Johannes! Er steht neben dem Stein.“

      Theo kniff die Augen zusammen, da sie durch die Sonnenstrahlen geblendet wurden. Er wunderte sich, wie Cornelia unter diesen Umständen überhaupt etwas sehen konnte.

      „Es ist zu hell“, meinte er und hielt beschattend eine Hand über seine Augen. „Ich sehe – warte.“

      „Was?“, fragte Cornelia, ohne ihren Blick von Johannes abzuwenden.

      Reglos stand er im Schatten einer Tanne, die neben dem Platz wuchs, auf dem der Gedenkstein, umrahmt von den beiden Farnkrautsträuchern, stand. Auch Cornelia konnte ihn unter diesen Lichtverhältnissen nicht so deutlich erkennen wie bei ihren vorhergehenden Begegnungen, aber immer noch klar genug, um keine Zweifel aufkommen zu lassen, es tatsächlich mit Johannes´ Erscheinung zu tun zu haben. In diesem Augenblick wunderte sie sich nicht, warum Johannes ausgerechnet am Gedenkstein von Heinrich Kreutzner aufgetaucht war, denn sie war wie gebannt. Es erging ihr, wie eine Woche zuvor, als sie vor ihrem geistigen Auge die undeutlichen Bilder gesehen hatte. Sie konnte weder denken noch bemerkte sie, was um sie herum vorging. Mit einer ruckartigen Bewegung deutete Johannes auf den Stein. Diese Bewegung kam so plötzlich, dass sich Cornelia erschrak.

      Wer nun glaubt, dass er gleichzeitig eine geistige Botschaft an Cornelia oder Theo übermittelte, der irrt. Es geschah nichts weiter, als dass er auf den Gedenkstein zeigte. Kurz darauf verschwand er so plötzlich, wie er aufgetaucht war, und der Bann löste sich von Cornelia.

      Was?“, wiederholte sie ihre Frage an Theo.

      Beim ersten Mal hatte er sie gar nicht gehört, weil ihn der Anblick dessen, was sich neben dem Gedenkstein offenbarte, völlig einnahm, obwohl er nicht das Gleiche sah wie Cornelia. Es war jedoch nicht der sichtbare Teil der Erscheinung, der ihn so beeindruckte, sondern die Empfindung, die damit verbunden war.

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