Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring
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„Rosa, mein Kindchen, bleibe liegen“, beruhigt Amalie das wimmernde Kind. „Ich werde dir mit lauwarmem Tee die Augen auswischen. Und wenn das nicht hilft, dann werde ich zum Arzt gehen.“
Aber Rosa weigert sich jedes Mal, im Bett zu bleiben. Gleich nach dem Frühstück hockt das Kind wieder auf der Bank des Webstuhls und lässt auf seine langsame Art die Schiffchen laufen. In die Schule kann sie nicht gehen, weil sie nur schwer begreift, was man von ihr erwartet und weil sie die Augen nicht anstrengen darf.
Der Berthold will nicht in die Schule. Wenn man nur ordentlich weben und dazu noch seinen Acker bestellen kann, meint er, das reiche fürs Leben. Er hat nur so viel gelernt, dass er ein wenig lesen und ein paar Buchstaben schreiben kann. Hingebungsvoll hat er, wenn er Lust dazu hatte, seine Unterschrift geübt, die er gekonnt hinmalt, wenn es einmal sein muss. Ganz anders verhält es sich mit dem neunjährigen Edmund. Er besitzt einen raschen und wachen Verstand, der sich für jede noch so simple Arbeit allerlei Erleichterungen oder Verfeinerungen ausdenkt. Es gibt aber niemanden, der sich seine Schnapsideen, wie der Vater sie nennt, anhören will. Nein, wenn Edmund auftaucht und seine Hilfe anbietet, dann ist bei den Leuten sofort eine Gereiztheit zur spüren. Sie winken ab und schicken ihn schnell wieder weg, und man ist froh, ihn ohne großes Lamento, ohne seine bohrenden Wenns und Abers losgeworden zu sein.
Jendrik steht in der Frühlingssonne und lauscht auf das Klopfen, auf das Durcheinander und das Gegeneinander der Webstühle. Bald wird er sieben Webstühle hören können! Expandieren nennt sein Bruder das; aber Jendrik weiß nicht, was es bedeutet, und den Bruder fragen, das mag er nicht, um nicht verlacht zu werden; ja, expandieren, das will Jendrik auch. Der Bruder erinnerte ihn: ‚Haben nicht alle Erdmanns vor ihm ebenso gedacht und gehandelt? Damit haben sie uns ein ansehnliches Anwesen hinterlassen, das der Familie Respekt im Ort verschafft und ihrem Wort in den Versammlungen ein gewisses Gewicht gegeben hat.’ Ja, Jendrik will sich ebenso wie seine Vorfahren darum bemühen, das, was er übernommen hat, zu vergrößern. Er wird seinen Besitz vermehren und somit dem Namen und dem Ansehen seiner Kinder im Ort noch mehr Wichtigkeit geben.
Er beobachtet eine Katze, die, ein Junges im Maul tragend, vorsichtig aus dem Fenster des Geflügelstalles in den Hof springt.
Ja, so ist das unter dem Dach seines Hauses: hier drängt in jedem Winkel Leben ans Licht, immerzu, als läge nur darin der Sinn.
Die Leute rüsteten sich für den Bittgottesdienst, denn der Mai geht zu Ende.
In jedem Jahr kommen am letzten Maisonntag die Menschen aus der Stadt und dem Umland zu diesen Bittgottesdiensten zusammen, um derer zu gedenken, die zuletzt vor über dreißig Jahren, das war im Jahre achtzehnhundertsechsundsechzig, von der Cholera dahingerafft worden sind. Katholiken und Protestanten, Deutsche wie auch Polen machen sich gemeinsam auf. Einträchtig fahren dazu unterschiedliche Familien in einem Wagen in die Stadt. Vor der eigenen Kirche verabschieden sie sich, um hernach in der Weise, wie sie gekommen sind, auch wieder den Heimweg anzutreten. Dieses gemeinsame Fahren hat noch einen anderen Grund.
Damals, das hatte jeder von den Älteren noch lebhaft im Gedächtnis, starb allein in dieser Stadt ein Zehntel der Bevölkerung. In wenigen Monaten war der Friedhof belegt, und als man nicht mehr wusste, wo man die Toten begraben sollte, kam von der Starosterei die Verfügung, dass jeder Bürger zur Erweiterung des Friedhofs zwei Rubel an die örtliche Verwaltung zu entrichten habe. Mit diesem Geld wurde dann in aller Eile der Friedhof erweitert und auch gleich ein zweiter geplant. Nach einem guten Jahr war dieser zweite Friedhof dann so weit hergerichtet, dass er genutzt werden konnte. Man wollte gerüstet sein für den Fall, dass die Seuche noch einmal auftreten und im Land wüten sollte. Sodann war in die Bittgottesdienste mit der Zeit noch etwas ganz anderes hineingekommen.
Es gab vielfältige Nöte, die die Menschen drückten und ihnen das Leben schwer machten. Lange Winter, in denen sie nicht nur froren, sondern auch erfroren. Und alle paar Jahre gab es Missernten, wie sie sie erst vor kurzem erlebt hatten. Hin und wieder brannte schon einmal ein Haus, und da nicht wenige Häuser aus Holz gebaut waren, breitete sich das Feuer in Windeseile aus und vernichte ganze Viertel oder Straßenzüge. Und oft genug starben Menschen in den Flammen, oder sie wurden von einstürzenden Dächern oder Wänden erschlagen.
Dieses Erleben, solches Wissen floss in die Bittgottesdienste mit ein.
Das Fürchterlichste aber war die Cholera. Sie wurde als ebenso schlimm empfunden wie die Knechtung durch die russischen Usurpatoren.
So wurde in den Bittgottesdiensten am letzten Maisonntag an diese beiden zentralen Ereignisse gedacht: an das letzte Wüten der Cholera und an den Januaraufstand der polnischen Patrioten gegen ihre Unterdrücker, der sich drei Jahre vor dem letzten Auftreten dieser Seuche ereignet hatte.
Mit aller Härte war damals gegen die Aufständischen und gegen jeden, den man dafür hielt, vorgegangen worden. Ein Heer von Soldaten und von Spionen hatte das Land überzogen, um mit Verhaftungen und Hinrichtungen und dem Verwüsten von Höfen und ganzen Dörfern den patriotischen Gedanken der Polen und ihrer Sympathisanten auszumerzen.
Vielfach versuchten die Russen, Misstrauen und Hass zu säen zwischen der polnischen und der deutschstämmigen Bevölkerung, und sie versuchten durch hohe Belohnungen die Deutschen dazu zu bewegen, ihr Mitwissen über geheime Verschwörungen von Widerstandskämpfern und Anarchisten preiszugeben und an deren Ergreifung mitzuwirken.
„Wir leben im Lande unserer polnischen Brüder, ihr Schicksal ist unser Schicksal, ihr Leid ist unser Leid, ihre Sehnsucht nach Freiheit ist auch unsere Sehnsucht!“ So konnte man es am letzten Maisonntag von den Kanzeln vieler deutscher Kirchen hören, und eine aufmerksame und bereite Gemeinde pflichtete dem Prediger bei; sie tat es durch Nicken oder Seufzen oder auch schon einmal durch zustimmendes Gemurmel.
„Durch die polnische Erde, die uns alle nährt und am Leben erhält, sind wir miteinander verbunden. Und diese Erde ist der Schoß, aus dem wir gekommen sind und zu dem wir zurückkehren werden. Sie ist nicht nur die Mutter der Polen, sie ist auch unsere Mutter. Somit sind Polen und wir, deren Väter dieses Land zu ihrer und zu unserer Heimat erwählt haben, Brüder; und wenn ein Bruder leidet, dann leiden die anderen Brüder mit. Hat ein Bruder Anlass zur Freude, dann teilt er auch sie mit seinen Brüdern ...“
Der junge Prediger ist erregt; er ist nach und nach in Hitze gekommen. Seine Erregung ist so groß, dass er mehrmals mit der Faust auf die breite Brüstung der Kanzel schlägt und dass er, mit dem Finger durch seinen Hemdkragen fahrend, sich Luft verschaffen muss.
Manchmal bohrt sich sein Blick in das Gesicht des einen oder anderen fremden Gottesdienstbesuchers, weil es nicht die Spur einer Gemütsbewegung erkennen lässt, und in dem jungen und heftigen Prediger der Verdacht aufkommt, dass da ein Schnüffler an der Säule lehnt oder sich in die harte Kirchenbank gequetscht hat; vielleicht ist es sogar jemand von der geheimen Polizei.
Wenn er doch seine Gemeinde schon besser kennen würde! Wenn er von seinem Vorgänger Informationen bekommen hätte! Aber den haben die Pferde, aufgeschreckt von irgendeinem Tier, mit seiner Kutsche, aus der er sich,